Die gläsernen ParlamentarierInnen

(zoon politicon) Ein Spezialzweig der Abstimmungsforschung beschäftigt sich mit dem Wahlverhalten der Parlamentarier. Deren Verhalten ist namentlich durch die elektronische Stimmabgabe im schweizerischen Nationalrat transparenter geworden.

Das Projekt der Forschungsgruppe sotomo
Michael Hermann und Heiri Leuthold, zwei promovierte Geografen der Forschungsgruppe sotomo an der Uni Zürich, haben sich mit ihren Untersuchungen des Abstimmungsverhaltens von Parlamentariern in den letzten 5 Jahren die grösste Innovation in der empirischen Politikforschung der Schweiz vollbracht. Ihre politische Karte des Nationalrats lässt zunächst die Positionierung eines jeden Mitgliedes dieses Rates zu.

parlament.gif
Beispielhafte Darstellung der Positionen der ParlamentarierInnen resp. Fraktionen im eidg. Parlament 2003-2007 unter www.parlamentsspiegel.ch

Für den Zeitraum 2004-2007 wurden hierzu alle 1300 Namensabstimmungen in der Grosse Kammer des schweizerischen Parlaments ausgewertet. Statistisch gesprochen geschah das mit der sehr leistungsfähigen mehrdimensionalen Skalierung; visualisiert wurde es mit kartografischen Mitteln.

Der Vorteil dieses Vorgehens besteht darin, dass keine normativen Vorgaben gemacht werden, was linkes oder rechts Abstimmungsverhalten ist, sondern die Entscheidungen jede(r) ParlamentarierIn in Relation zu den Entscheidungen aller anderer gespiegelt wird.

Mit dieser Methode kann die Nähe resp. Distanz zwischen zwei oder mehreren ParlamentarierInnen bestimmt werden. Wenn die Fallzahl hoch genug ist, kann dies bei konstant bleibenden Achsen auch über die Zeit, beispielsweise im Legislaturvergleich verfolgt werden werden.

Das Vorgehen erlaubt es auch, die mittlere Position der Fraktionsmitglieder zu bestimmen und so die Fraktionen gleich wie ParlamentarierInnen zu verorten. Das wiederum lässt den Positionsvergleich von Fraktionen zueinenander zu, womit ein plastisches Bild der politischen Landschaft der Schweiz im Parlament entsteht.

Vorteilhaft ist, dass die so ermittelten Ergebnisse auch auf Internet verfügbar sind. Die interaktiv nutzbare Datenbank “Parlamentsspiegel” erlaubt insbesondere eigene Recherchen nach Personen, Parteien und Themengebieten.

Analyse für die politische Praxis
Insbesondere Michael Hermann hat diese Datenbank in den vergangenen Jahren mehrfach gewinnbringend verwendet, um zur Position der Fraktionen Stellung zu nehmen. Enen spannenden Versuch hat der Autor unmittelbar nach den Nationalratswahlen von 2007 unternommen. Dabei hat er mit der gleichen Methode die Antworten der gewählten Nationalräte, die sie bei smartvorte abgegeben hatten, analyisiert und sei ein prospektives Profil der Fraktionen erstellt für die Legislaturperiode von 2007-2011 gezeichnet.

Diese Prognose legt nahe, dass sich namentlich die neu gewählte CVP-Vertretung in Richtung reformorientierter Mitte bewegen wird und gemeinsam mit den VertreterInnen der FDP, der LP und der glp Modernisierungspolitiken unterstützen wird. Politisch steht die Fraktionen, die aus CVP, EVP und glp entstanden ist, der FDP/LP am nächsten, während sie von SP, Grünen und SVP etwa gleich weit entfernt sein wird.

parpos.gif
Positionierung der politische Parteien der Schweiz im zweidimensionalen Raum aufgrund der Namensabstimmungen im Nationalrat und aufgrund der Antworten der Gewählten 2007 bei smartvote (Quelle: sotomo)

Bezogen auf die beiden hierfür unterschiedenen Achsen kann man anhand der Nationalräte die folgenden Parteiklassierungen vornehmen:

. von links nach rechts: PdA, Grüne, SP, EVP, glp, CVP, EDU, LP, FDP, SVP
. von modern nach traditionell: glp, FDP, LP, CVP, SP, EVP, Grüne, PdfA, SVP, EDU


Meine Bewertung

Mir gefällt an diesen Klassierungen insbesondere, dass sie versuchen, empirisch gestützte, aktuelle politische Daten zu generieren, die in der politischen Debatte von Relevanz sind und die klassische Aufgabe der Forschung für die Praxis erfüllen: nämlich vermehrt Rationaliät in politische Entscheidungsgrundlagen zu bringen.

Claude Longchamp

Les campagnes électorales

Cours de Claude Longchamp à IDHEAP

Le rôle des autorités dans les campagnes électorales et de votation est devenu plus actif. Il devient de plus en plus important, standardisé à un nouveau niveau.
Quelles sont les possibilités et les limites de la communication politique des autorités à l’occasion d’élections et de votations ? Le cours d’aujourd’hui étudie cette question.

2260628569_9389a50777.jpg
Qu’est-ce que c’est une campagne électorales, et quelles sont ses effets? – Les questions qui sont traitées pendant ce cours.

Les autorités ne sont généralement pas directement impliquées dans les campagnes électorales; nous traitons cependant cet aspect, car les campagnes sont mieux étudiées et peuvent contribuer à une meilleure compréhension de la communication politique des décisions. Nous y apprenons les visions théoriques, que la psychologie, l’économie et la science de la communication ont développé, connaissent et en discutent l’utilisation pour les élections du conseil national 2007.

Les autorités sont plus ou moins engagées dans les campagnes de votation – soit du côté “pour” les référendums, ou (généralement) du côté des “contre” pour les initiatives populaires. Pour pouvoir comprendre les effets de la communication, nous apprenons à connaître le dispositif, qui a été spécialement développé pour l’analyse dynamique des votations populaires. Nous apprenons à définir ce que sont les prédispositions des décisions et comment on y a recours dans la communication de campagne.

Dans la troisième partie du cours, nous appliquons ce que nous avons appris sur la formation d’opinion à la votation populaire pour l’adhésion de la Suisse aux accords de Schengen et Dublin, et discuterons des questions posées par les participants sur les conclusions de la généralisation.

Les documents du cours peuvent être consultés en allemand ou en français.

Claude Longchamp

Mein Stimmungsbericht

Erstanalyse der Schwyzer Kantonsratswahlen

(zoon politicon) Die Schwyzer Kantonsratswahlen sind vorbei. Nun beginnt die Analyse. Eine Möglichkeit, Wahlergebnisse, die auf kommunaler Ebene vorliegen, zu untersuchen, sind Wählerstromanalysen.

wahlen2008schwyz.gif
Vorbildliche Resultatevermittlung der Resultate im Kanton Schwyz; eine Analyse der Herkünfte und Verschiebungen von Wählerstimmen, die einen Anhaltspunkte für die Ursachen geben könnten, ist das aber nicht.

Das statistische Verfahren
Die Annahme dahinter ist recht einfach: Man betrachtet, welche Partei in einem Wahlkreis gewinnt und welche verliert. Dann fragt man sich, ob die einzelne Beobachtung verallgemeinerbar ist oder nicht. Wenn sie verallgemeinerbar ist, kann man plausible Wählerwanderungen anstellen, die nach dem Motto funktionieren: Wer gewinnt von wem.

Nun ist die Realität aber komplexer, wenn sich die Beteiligung ändert und es mehr als zwei Partein hat. Man muss das Gedankenspiel gleichzeitig für alle denkbaren Uebergänge machen. Das kann eigentlich niemand.

Doch gibt es statistische Verfahren, die einem helfen, dabei die Uebersicht zu bewahren. Wer diese diese beherrscht, kann die Wahrscheinlichkeiten aller Uebergängen gleichzeitig schätzen. Und genau das nennt man WählerInnen-Ströme. Sie geben, bilanziert wieder, wer von wem wieviel gewonnen resp. wer an wen wieviel verloren hat.

Das Beispiel
Der “Bote der Urschweiz” hat heute eine solch statistische Datenanalyse der Schwyzer Wahlen publiziert. Präzise handelt es sich um eine Untersuchung der 17 Gemeinden, in denen effektiv nach Proporzbedingungen politische Parteien gewählt wurden; in den anderen Gemeinden wird zwar auch nach den Verhältniswahlrecht gewählt, doch handelt es sich um Einwahlkreise, sodass es sich faktisch um Majorzwahlen handelt.

szww.gif
Beispielhafte Darstellung einer Wählerwanderungsanalyse. Die Grösse der Kreis symbolisiert die Summe aller Wanderungen (+ oder – beachten), jene der Pfeile die Stärke der bilateralen Wanderungsbilanzen. Kleinstbilanzen sind der Uebersichtshalber weggelassen worden (Quelle: Bote der Urschweiz)

Die Ergebnisse
Was sind die Ergebnisse der Analyse? Sie helfen, die traditionelle Darstellung von Wahlergebnissen in Wählerprozenten im Verbund zu interpretieren. Man erhält Hinweise darauf, von wo die Gewinne einer Partei, hier der SVP kommen, und wer wieviel dazu beiträgt.

schwyz.gif
Traditionelle Darstellung von Wahlergebnissen in Wählerprozenten, die mit dem Wissen aus Wählerstromanalysen verbessert gelesen werden kann.

können wie folgt zusammengefasst werden. In den 17 untersuchten Gemeinden des Kantons Schwyz ist die Beteiligung gegenüber den Kantonsratswahlen von 2004 im Jahre 2008 um 1,1 Prozent leicht angestiegen. Die Neumobilisierung hat vor allem der SVP genützt; sie legt nur schon deshalb zu. Marginale Gewinne verzeichnet hier auch die CVP, nicht aber die FDP. Die SP ihrerseits verlor zunächst an die Nicht-Mehr-Wählenden Stimmen.

Wenn die SVP im Zeitvergleich von 2004/8 mit +7,7Prozent am meisten gewann, hat das indessen nicht nur Mobilisierungsgründe. Sie verzeichnet auch WechselwählerInnen-Gewinne. Sie gewann von allen anderen Regierungsparteien hinzu, nicht aber von allen gleich viel. Es gilt: Je näher der politische Standort mit jenem der SVP verwandt ist, desto mehr gewann die SVP Wählenden von dieser Partei. Konkret: Zuvorderst steht die FDP, dann die CVP und schliesslich die SP, wenn es um Wechselwählende an die Adresse der SVP geht.

Die drei stärksten Salden betreffen dabei die Neuwählergewinne der SVP und die Wechslergewinnen von der FDP und der CVP. Hier ist das Elektorat in Kanton Schwyz insgesamt am volatilsten. Bezogen auf eine Partei ist bei der SP momentan am meisten in Bewegung.

Die Folgerungen für die Parteien
Was heisst das nun für die Parteien?
. Erstens, die SVP gewann die Schwyzer Wahlen, weil sie eine generelle Magnetwirkung für die Wählerschaft hat(te). Das gilt am stärksten für jene, die bisher keine Partei unterstützen, dann für jene, die verwandte Parteien bisher wählten. Sie kann sich aber freuen: Sie in der Wanderungsbilanz nur Pluspunkte, keine Minuszähler.
. Zweitens, die FDP hat einen grossen Minuspunkt: Die Abwanderung von Wählenden an die SVP.
. Drittens, die CVP hat den gleichen Minuspunkt, aber auch einen kleinen Pluspunkt bei der Neumobilisierung.
. Viertens, die SP hat zwei Minuspunkte, denn sie verliert sowohl an die SVP als auch an die Nichtwählenden etwas.

Das Hauptproblem der Parteien im Kanton Schwyz ist demnach die mangelnde Parteitreue, das sekundäre ist die Mobilisierung. Von den Problemen der SP, der CVP und der FDP profitiert gegenwärtig die SVP ganz allgemein.

Meine Erfahrung
Man kann Bedenken haben gegen solche Modellrechnungen. Meine Erfahrung sagt mir, sie sind relativ robust. Sie sind die bisher beste Schätzung, was sich im Kanton Schwyz zwischen 2004 und 2008 parteipolitisch ereignete, wenn man sich auf kantonale Wahlen konzentriert.

Claude Longchamp

Gewinnt die SVP wegen der Abwahl von Christoph Blocher kantonale Wahlen?

These und Gegenthese
Unbestritten ist, dass die SVP die beiden jüngsten kantonalen Wahlen gewinnen hat. Sie ist zur stärksten Partei im Kanton St. Gallen aufgerückt; und sie hat ihre Leadposition im Kanton Schwyz gefestigt. Umstritten ist allerdings, weshalb die SVP Wahlsiegerin wurde. In der medial gängigen Leseweise hat sie die Wahlen gewonnen, weil Christoph Blocher aus dem Bundesrat abgewählt worden ist.

sg11.gifsz11.gif
Keine Beleg für eine Wachstum der SVP-Wählerschaft seit den letzten National- resp. Bundesratswahlen: Die Vergleiche der WählerInnen-Anteile 2007 und 2008 in den Kantonen St. Gallen und Schwyz.

Ich halte mal dagegen!

1. Im Vergleich zu den Nationalratswahlen 2007, der letzten Wahl vor der Abwahl von Bundesrat Christoph Blocher, hat die SVP an WählerInnen-Anteilen sowohl in Schwyz wie in St. Gallen verloren.
2. Im gleichen Vergleich haben die CVP und die FDP in beiden Kantonen zulegt, und hat die SP in einem Fall an Wählerstärke verloren.
3. In St. Gallen, wo die Wahlbeteiligung bekannt ist, ist sie aktuell geringer als bei der Nationalratswahl 2007.

Das mediale Analysekonstrukt und seine empirische Evidenz
Richtig ist, dass die Mobilisierung im eidgenössischen Wahlherbst höher war als bei den kantonalen Wahlen. Damit haben die Wahlen als solche und die meisten Parteien bei den jüngsten kantonalen Wahlgängen absolut weniger WählerInnen angesprochen. Bei der SVP gilt dies nicht nur absolut, sondern auch relativ. Ihre Anteile unter den jeweils Wählenden sind zwischen 5 und 8 Prozent zurückgegangen. Das verringert die Zahl der Wählenden, die diesmal SVP gewählt haben nochmals. Um nicht missverstanden zu werden: Die Partei hat gegenüber den letzten kantonalen Wahlen zugelegt. Sie tat dies in St. Gallen bei einer vergleichbaren Wahlbeteiligung.

Richtig ist damit auch, dass die Partei in beiden genannten Kantonen seit ihrem Auftreten resp. Aufschwung in den 90er Jahren an WählerInnen-Stärke zugelegt hat. Dieser Trend hält bestätigte sich am vergangenen Wochenende parallel zum nationalen Trend zum wiederholten Mal. Der Anstieg der SVP in den beiden ehemaligen CVP-Hochburgen ist damit ein Phänomen der letzte 12 Jahre. Er ist keineswegs das Produkt der letzten Monate.

Die nüchterne Wahlanalyse aufgrund der ersten Angaben zur Beteilgung und Wählerstärken
Die vorläufig einzig zulässige Deutung der gegenwärtig vorliegenden Daten zu den WählerInnen-Stärkn der Parteien in St. Gallen und Schwyz lautet: Die Mobilisierung durch die letzten kantonalen Wahlen war geringer als durch jene bei den eidgenössischen Parlamentswahlen. Die geringere Aufmerksamkeit, die verminderte mediale Berichterstattung und die sicherlich weniger intensive Form der Wahlkampagnen machen diese Feststellung plausibel. Es sind aber nicht alle Parteien nicht im gleichen Masse von dieser veränderten Mobilisierung betroffen. Nutzniesserinnen der verringerten generellen Mobilisierung waren die CVP und die FDP, die ihre WählerInnen-Anteile steigern konnten. Das hat mit der geringeren Polarisierung jetzt als vor einigen Monaten zu tun. Und das hat hat mit der höheren Bedeutung für die Parteiidentifikation der lokalen Politgrössen gegenüber den nationalen Aushängeschildern zu tun.

Die SVP profitierte(e) davon, dass die Wahlen zu einem vermeintlichen Entscheid für oder gegen Christoph Blocher gemacht wurden/werden. Das war bei den Nationalratswahlen 2007 evidentermassen der Fall. Dieser Effekt spielte im Vorfeld der kantonalen Wahlen nicht mehr. Er hat die generelle Beteiligung wieder auf das kantonale Normalmass zurückgehen lassen, und er hat auch die Wähleranteile insbesondere der SVP verringert.

Mein vorläufiger Schluss
Bei den jüngsten kantonalen Wahlen hat die SVP gegenüber den Wahlen von 2004 zugelegt. Sie ist oder wurde die stärkste kantonale Partei. Sie legte, wie schon in den früheren Wahlen in St. Gallen und Schwyz gegenüber der kantonalen Vorwahl zu. Das hat mit ihrer jungen Entstehungsgeschichte als Sammelbecken der nationalkonservativen Unzufriedenheit zu tun. Diese Aufgabe löst die Partei unverändert in vorbildlicher Form.

Sie verbesserte sich jedoch gegenüber 2007 nicht weiter, als sie aufgrund der zugespitzten Situation im Wahlkampf gerade ideal mobiliserte. Und es gibt keinen Beleg, dass die SVP kurzfristig einen Aufschwung erhielt. Interessant ist, dass die vorherrschende mediale Deutung zu einem Zeitpunkt entstand, bevor die relevanten datenmässigen Entscheidgrundlagen auch nur ansatzweise vorlagen.

Claude Longchamp

Weitere Kritik an der These der “Blocher-Abwahl”

Von den Schwierigkeiten bei kantonalen Wahlen Erstanalysen zu machen

(zoon politicon) Die kantonalen Wahlen von gestern in St. Gallen und Schwyz wurde mit Spannung erwartet. Erstmals seit den eidgenössischen Wahlen traten wieder Parteiformationen und ihre KandidatInnen an.

1.jpg
Die SVP und ihr Kandidat in St. Gallen: offensichtliche Wahlsieger des gestrigen Tages, dessen Analyse noch nicht gemacht ist (Quelle: Keystone).

Das Ergebnis ist vordergründig klar: In beiden Kantonsparlamenten von diesem Wochenende ist die SVP die stärkste Kraft. Sie hat in beiden Fällen die CVP überrundet. In beiden Kantonen gilt ab sofort: SVP vor CVP vor FDP vor SP.

Die Praktiker-Methode
Doch nun beginnen die Schwierigkeiten mit Erstanalysen: Was vergleicht man womit, um zu Trendaussagen zu kommen und auch Gewinner und Verlierer zu kennen?

Die Praktiker-Methode greift, wie bei der Bestimmung der Fraktionsstärken, auf Sitze zurück, benennt so, wer zugelegt und wer verloren hat. Wer mit dieser Faustregel arbeitet, geht häufig noch weiter: Die Sitzgewinne einer Partei werden mit den Sitzverlusten einer anderen Partei direkt verrechnet, und schon hat man auch eine WählerInnen-Analyse.


Zweifel an Schnellstschüssen

Es gibt vier gute Gründe, die Gültigkeit dieses Vorgehens zu bezweifeln:

1. Zuerst wäre dieses Verfahren nur dann sinnvoll, wenn die Sitzzahlen und das Wahlsystem identisch bleiben würden. Nur schon das ist durch die Verkleinerungen verschiedener Parlamente schwierig geworden. Zudem sind in jüngster Zeit verschiedentlich Wahlverfahren verändert worden.

2. Sitzzahlen und Parteistärken müssen nicht identisch sein. Sitzzahlen bilden nur jene Stimmen ab, die zu einer Partei geführt haben. Parteistärken lassen sich effektiv nur anhand der abgegebenen Stimmen bestimmen. Publizierte Anteile für Parteien basieren mitunter nur auf den Sitzverteilungen.

3. Gewinne- und Verluste von Parteien sind letztlich die Folge der Mobilisierung des Elektorates. Ohne Angaben zur Wahlbeteiligung kann diese aber nicht bestimmt werden. Denn ohne diese Erweiterung werden Gewinne und Verluste einer Partei, die allein durch Beteiligungsänderungen entstehen, nicht erfasst.

4. Annahmen zur WählerInnen-Wanderung sind mit grösster Vorsitz zu geniessen. Reine Schätzungen aufgrund des common senses können sich irren. Häufig sind kompelexe Wählerwanderungsmodelle adäquater als einfache. Ohne spezifische statistische Analysen geht da gar nichts.

Meine Schlussfolgerung
Ich ziehe daraus eine wichtige Schlussfolgerung: In der Regel bewegt man sich bei Erstanalysen ohne spezifische Daten und Analysen unter dem Anspruchsniveau, das hier formuliert worden ist. Das hat mir dem Zeitdruck der Medien, mit der Information der Statistischen Aemter und mit den Auswertungen der AnalystIn zu tun.

Wünschenswert ist, dass solche Uebungen inskünftig mit AnalystInnen und mit statistischen Aemtern vorbesprochen werden; es sind mit beschränktem Aufwand klare Verbesserungen der Aussagemöglichkeiten machbar.

Ich schreibe das nicht, um Gewinner oder Verlierer der aktuellen Wahl in einanderes Licht zur rücken. Schreibe es aber, damit man über die vorherrschende Praxis der Resultatevermittlung und ihrer Analyse überdenkt!

Claude Longchamp

PS:
Beispiel einer nachträglichen Beschreibung des Wahlergebnisses aufgrund von gesicherten Daten im Kanton Schwyz
Beispiel einer nachträglichen Analyse des Wahlergebnisses aufgrund der Wählerstromanalyse für den Kanton Schwyz

Erste Professur für Demokratieforschung in der Schweiz

(zoon politicon) Gegenwärtig läuft eine Ausschreibungsverfahren, das der Schweiz eine Professur für Demokratieforschung bringen wird. Der Lehrstuhl wird von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich ausgeschrieben und soll schon am 1. September 2008 besetzt sein.

demokratie_bauen.jpg

Die Arbeit selber wird in Aarau geleitstet werden. Die Stadt hat finanziert vorerst befristet ein Zentrum für Demokratie, das durch die Stiftungsprofessur geleitet werden soll. Das Zentrum soll mit normativen Grundlagen, institutionellen Ausgestaltungen und der Leistungsfähigkeit demokratischer Systeme befassen, eigene Forschungsprojekt realisieren und insbesondere die Weiterbildung auf dem Gebiet der Politik aufbauen.

Für den neuen Lehrstuhl wird bis Mitte April 2008 eine ausgewiesene Persönlichkeit gesucht. Die Lehrstuhlinhaberin oder der Lehrstuhlinhaber sollte mit dem politischen System der Schweiz und ihren direktdemokratischen Institutionen sehr gut vertraut sein. Sie oder er sollte auch in der Lage sein, dem Aarauer Zentrum für Demokratie zu öffentlicher Sichtbarkeit zu verhelfen und eine entsprechende öffentliche Rolle zu übernehmen.

Ich freue mich auf diese Erweiterung der schweizerischen PolitologInnen-Landschaft und hoffe, die Stelle und das Zentrum werden etwas dazu beitragen, die schweizerischen Erfahrungen mit der (direkten) Demokratie namentlich im Ausland besser zu verankern.

Claude Longchamp


Ausschreibung

Die Kampftruppen der Freiheit

(zoon politicon) Man erinnert sich: Als der Kalte Krieg zu Ende war, zwangen juristische Untersuchungen über mysteriöse terroristische Aktionen in Italien Premierminister Giulio Andreotti 1990 zu bestätigen, dass die NATO in Italien und anderen europäischen Staten, eine Geheimarmee unterhalte. Koordiniert wurde sie durch den CIA und den MI6. Gerichtet war die Aktion, die in Italien unter dem Decknamen “Gladio” lief, gegen den Kommunismus in Westeuropa.

gladio400.jpg
Daniele Ganser vom Basler Historischen Institut, der die Geschichte der Nato-Geheimarmeen während des Kalten Krieges aufgearbeitet hat und provokativ die Frage nach der Souveränität der europäischen Staaten zwischen 1945 und 1989 stellt.

Diese Aufdeckung hat den Basler Zeithistoriker und Politikwissenschafter Daniele Ganser beflügelt, ein unübliches Dissertationsprojekt zu starten: Die Geschichte der NATO-Geheimarmeen in Europa sollte für die ganze Nachkriegszeit bis in die Gegenwart aufgearbeitet werden.

Bedenken, die renommierte Professoren wie Georg Kreis wegen des Quellen an die Adresse des Projektes formulierten, überging der Doktorand. Er arbeitet, während drei Jahren und nun unterstützt von Georg Kreis, zugängliches Archivmaterial auf, erhielt weiteres von verschiedener Seite zugestellt und entwickelte dabei die Kunst, immer mehr auch bisher uneditiertes Quellenmaterial zu erschliessen. Damit doktorierte Ganser bei Professor Jussi Hanhimäki an der LSE in Politikwissenschaft. Sein Werk erschien 2005 auf Englisch und avancierte in dieser Sprache zum Bestseller. Zwischenzeitlich ist es in Italienische, Türkische, Slowenische, Russische, Französische und Estnische übersetzt worden. Und seit einigen Tagen liegt auch eine deutsche Fassung vor, die, erweitert um ein Vorwort von Georg Kreis und ein Nachwort von Albert A. Stahel auf dem Buchmarkt erworben werden kann.

Der Doppelcharakter von Geheimarmeen
Daniele Ganser fasst seine Forschungsergebnisse so zusammen: Die NATO-Armeen hätten einen Doppelcharakter gehabt. Zunächst seien sie eine kluge Vorsichtsmassnahme gewesen, die aus den Erfahrugnen des Krieges entstanden, während der Zeit des Friedens vorbereitet worden sei. 19 Nato-Staaten, aber auch vier Neutrale, darunter auch die Schweiz, seien daran beteiligt gewesen. Handumkehrt seien diese NATO-Truppen aber auch eine Quelle des Terrors gewesen. Denn mit dem Ausbleiben der erwarteten Invasionen der Roten Armee in Westeuropa habe sich das Ziel verlagert. Aus Angst, das linke Parteien namentlich in Italien, Frankreich, Belgien, Finnland und Griechenland, die Regierungen übernehmen und so die NATO von Innen her zerstörten könnten, hätten die Geheimdienste der USA und Grossbritannien die Geheimarmee als Instrumente verwendet, um die Demokratien Westeuropa von innen her zu manipulieren und zu kontrollieren. Das habe weder die europäische Bevölkerung noch deren Regierungen wissen dürfen und so einen rechtsfreien Raum geschaffen.

Genau hier greift der Politikwissenschafter Ganser dezidiert ein: Der dokumentierte Sachverhalt stelle die Souveränität der Staaten Westeuropas zwischen 1945 und 1989 in Frage. “Die Manipulation durch Washington und London, deren Umfang für viele in der Europäischen Union auch heute noch schwer zu glauben ist, hat eindeutig gesetzlichen Regeln verletzt.” In einigen Operationen seien linke Politiker nur beobachtet worden. In anderen sei antikommunistische Propaganda betrieben worden, der schliesslich auch vor Blutvergiessen nicht zurückgeschreckt habe. Das sei entstanden, weil man sich mit rechtsextremen Terroristen zusammengetan haben, die zu Terroranschlägen, Folterungen, Staatsstreichen und andere Gewalttaten geführt habe. Das meiste davon, sei im Geheimen unterstützt und erfolgreich vertuscht worden.

Demokratische Kontrolle und staatliche Souveränität
Das ist dicke Post, die man auf dem Büchertisch von Schweizer Buchhandlungen erwerben kann. Dabei kann es schon mal Vorkommen, dass man das Buch zwischen Krimis und James-Bond-Geschichten vorfinden kann. Doch es sind nicht nur Erfindungen und Fiktionen, die da aufgeführt werden. Es handelt sich um eine Stück zeitgeschichtlicher Realität, die man vielleicht vermutet und befürchtet hat, jetzt aber in einer bisher unbekannte Form vorgeführt vorfindet. Deshalb liesst man fast noch aufmerksamer als bei einem Krimi das Buch von A bis Z durch, und staunt von der Aufdeckung der Aktion “Gladio” vor 18 Jahren in Italien über die detaillierten Länderberichte quer durch die europäischen Staaten bis zur Würdigung. Diese nimmt, nach 450 flüssig geschriebenen Seite, die für die Politik zentrale Frage auf: jene nach der demokratischen Kontrolle von Geheimarmeen, die aus inhärenten Gründen zwischen Oeffentlichkeit und Geheimhaltung abwägen muss.

Ganser ist in der Beantwortung dieser Frage unmissverständlich: “Der Exekutive sollte keinen Verschwiegenheit gewährt werden, und sie sollte jederzeit von der Legislative kontrolliert werden”, denn die Gewährung komme einen fundamentalen Versagen der demokratischen Institutionen gleich. Doch der Zeithistoriker hält auch hier nicht inne. Seine Ueberlegung werden bis in die Gegenwart, sprich bis zum 11. September 2001, nachgezeichnet. Und sie führen ihn zu folgendem Schluss: Die Spirale der Frucht, der Manipulation und der Gewalt müsse durchbrochen werden. Der Terorismus können nicht durch Krieg besiegt werden. Denn der Krieg sei kein Teil der Lösung, sondern des Problems. Die Aussteigsstrategie müsse sich auf jeden einzelnen Menschen und sein Bewusstsein konzentrieren. “Der Einzelne kann sich von Furcht und Manipulation befreien, indem er sich ganz bewusst auf die eigenen Gefühle konzentriert, auf seine Gedanken, seine Worte und Handlungen achtet und damit immer friedliche Lösungen anstrebt.”

Das Stauen verarbeiten
Wahrlich, ich habe seit langem keine so provokante und spannende Disseration in Geschichte oder Politikwissenschaft gelesen, die nur schon deshalb berichtenswert ist, selbst wenn man sie noch nicht vertieft verarbeitet hat. Denn die Problematik, dass die Freiheit sich mit nicht freiheitlichen Mittel verteidigt kann weder demokratietheoretisch noch demokratiepraktisch stehen gelassen werden. Das wäre eine Kapitualtion von den Kampftruppen der Freiheit!

Claude Longchamp

Daniele Ganser: Nato-Geheimarmeen in Europa. Inszenierter Terror und verdeckte Kriegsführung, Zürich 2005 (Original 2005 auf Englisch erschienen)

Vorbildliche Lektion in Demokratietheorie

Demokratie nahm in den griechischen Stadtstaaten ihren Anfang. Die bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts beförderten die Sache. Zum Siegeszug als Herrschaftsform setzte Demokratie jedoch erst im 20. Jahrhundert an.
Anders als erwartet, bildete sich dabei nicht nur eine Form der Demokratie heraus, sondern unter unterschiedlichen Rahmenbedingungen verschiedenste Erscheinungweisen. Deshalb erstaunt es nicht, dass die Nachfrage nach wissenschaftlichen Theorien der Demokratie im letzten Jahrhundert rasant angestiegen ist.

41tfqwmsdjl_aa240_.jpg

26 Theorien im Vergleich
Ein besonders geglückter Versuch, eine weitgehend unvoreingenommene Ordnung in diese ausufernde Diskussion zu bringen, ist das deutschsprachige Lehrbuch “Demokratietheorien” des Heidelberger Politikwissenschafters Manfred G. Schmidt. Auf rund 600 Seiten handelt der Autor Vorläufer und Hauptvertreter der modernen Demokratietheorien ab, und stellt er die Demokratietheorien vor, die in der Forschung der Gegenwart von zentraler Bedeutung sind vor. 26 Definitionen und Herleitungen des Gegenstandes, die einen Bogen schlagen von Aristoteles bis zur Transitionstheorie von Diktaturen in Demokratien sind so zusammen gekommen. Diskutiert werden sie durch einen kritischen Befürworters von Demokratien, der legale Herrschaft, allgemeines, freies und gleiches Wahlrecht, Parteienwettbewerb, liberale Freiheiten, Abwahlmöglichkeiten und Verfassungsrecht zur Minimaldefinition der Demokratie zählt.

Der besondere Wert des Lehrbuches besteht darin, dass die Begründungen und Kritiken der verschiedenen Demokratievorstellungen nicht nur gerafft und materialreich zugleich vergestellt werden. Vielmehr werden sie in einem abschliessenden Teil aus einer systematischen, theorievergleichender Perspektive rekapituliert. Dafür hat Schmidt 10 Fragen für die Bewertung Demokratietheorien formuliert, die eine bisher nicht gekannte Uebersicht über den Gegenstand erlauben.

Die geprüfte Leistungsfähigkeit von Theorien
In einem 11 Vergleichspunkt kommt der Autor auf seine eigentliche Absicht des Buches, das schon mehrere Auflagen erlebt hat, zu sprechen: die Leistungsfähigkeit heutiger Demokratietheorien zu beurteilen. Zu seinen Favoriten zählen Demokratieforscher Schmidt Alexis de Tocqueville, Max Weber und Joseph Schumpeter, die die Funamente der Demokratietheorien legten. Ausgebaut wurde sie durch die Pluralismustheorie, die kritische Theorie und die komplexe Demokratietheorie. Die Ausweitung der Beschreibungen und Analysen durch den Staatenvergleich zählt er ebenfalls zu den wesentlichen Gründen für den Erkenntnisfortschritt. Schliesslich – und das kommt auch im Band selber breit zum Ausdruck – hält der Empiriker Schmidt die Vermessung von Demokratien für eine der wesentlichen Verbesserungen in der Gegenwart.

Rousseau, der während der Aufklärung das Prinzip der Volkssouveränität begründete, kommt in diesem Band auffällig schlecht weg, denn er blieb bei einem rudimentären Demokratieverständnis stehen; bemerkenswert gute Noten bekommt dafür der erste Theoretiker und Empiriker der Demokratie überhaupt, der griechische Philosoph Aristoteles.

Meine Würdigung
Ich kann das Buch Interessierten der Demokratieforschung nur empfehlen. Beendet wurde es fast schon symbolisch an der Schwelle des 20. zum 21. Jahrhunderts. Doch damit nicht genug; drei Vorteile des Buches von Schmidt seien hier herausgestrichen: Zuerst ist ein gut lesbarer Einstieg in eine nicht immer einfache Materie. Dann ist es eine Fundgrube für zentrale Ueberlegungen und relevante Daten zum Thema zugleich. Schliesslich eröffnet es einen nüchternen Blick auf die unverändert spannendste Herrschaftsform überhaupt.

Dass man am Schluss der Lektüre fast so weit ist, nach eine neuen, ideale Demokratietheorie greifen zu wollen, ist bei einem Einführungsbuch in einen politikwissenschaftlichen Gegenstand selten genug.

Claude Longchamp

Manfred G. Schmidt: Demokratietheorien. Eine Einführung. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Opladen 2000

Freiheiten und Demokratie weltweit vermessen

(zoon politicon) Demokratietypisierungen sind heutige in demokratischen Staaten in. Der wesentliche Gegensatz in den politischen Systemen, im 20. Jahrhundert entstanden, betrifft jener zwischen demokratischen und nicht-demokratischen Regimes. Mit dieser Polarität beschäftigt sich eine der weltweit am häufigsten zitierten Ländereinteilungen, jene, die das Freedom House in Washington, D.C. (USA) herstellt.

800px-freedom_house_world_map_2008.png
Weltweit aktuellste Länderklassierung aufgrund der existierenden politischen und bürgerlichen Freiheiten, erstellt durch das Freedom House

Die amerikanische Forschungseinrichtung erstellt jährlich einen Bericht über den Grad der demokratischen Freiheiten, gemessen am Stand der verbrieften bürgerlichen und politische Rechte. Die politische Freiheit wird aufgrund des Wahlprozesses, des Pluralismuses und der Partizipation in der Politik bestimmt, während Rede-, Glaubens- und Versammlungsfreiheit auf der einen, Rechtstaatlichkeit und Garantie individueller Rechte auf der anderen Seite die bürgerlichen Rechte ergeben.

Das Freedom House unterstützte in der Vergangenheit verschiedene Grossprojekte wie den Marshallplan nach dem Zweiten Weltkrieg, die Bürgerrrechtsbewegungen der 60er Jahren, Solidarnosc in Polen und Demokratie-Bestrebungen in der Ukraine und in Serbien.

Freedom House sieht sich damit im Trend. Nach ihren Berichten nimmt der Anteil liberale Demorkatien weltweit zu. 1973 galten 43 Staaten als “frei”, 2003 waren es 89″. 48 galten ausdrücklich als “unfrei”, während 55 als “halbfrei” klassiert wurden. Zwischen 1993 und 2003 nahm deren Zahl allerdings nicht zu Gunsten der frei, sondern auch der unfreien ab.

Das Freedom House sieht sich mit seinen Aktivitäten im Gefolge der Erklärung der Menschenrechte. Indes, es steht damit nicht allein. Der Index der ökonomischen Freiheiten, ebenfalls jährlich durch die Heritage Foundation erstellt und durch das Wall Street Journal publiziert, benasprucht ebenfalls, die Realisierung von Freiheit bestimmen zu können. Das gilt, ebenfalls spezifiziert, auch für den den Weltweiten Index der Pressefreiheit, durch die Reporter ohne Grenzen herausgegeben (der auch die Blogosphäre berücksichtigt).

450px-democracyindex2.png
Uebersicht über die weltweite Verteiligung von Demokratien und Diktaturen aufgrund des Economist Intelligence Unit’s Index of Democracy

Spezifischer auf die Demokratie zugeschnitten ist schliesslich der Economist Intelligence Unit’s Index of Democracy. Er teilt die Staaten in volle, weitgehend und hybride Demokratien resp. autoritäre Regimes oder Diktaturen ein. Dabei stellt der Index auf verschiedenste Indikatoren ab wie die bürgerlichen Freiheiten, die Wahlen, Medienfreiheit, politische Partizipation, öffentliche Meinung, funktionierende Regierung , Korruption und politische Stabilität. Daraus entsteht nicht nur eine qualitative, sondern auch eine quantitative Beurteilung der 169 untersuchten Länder.

Die Schweiz rangiert im Demokratie-Index weltweit an 10. Stelle. Die Abstriche entstehen wegen gewissen Problemen mit der politischen Partizipation. In den drei oben genannten Ranglisten, die qualitative Aussagen machen, ist die Schweiz jeweils in der obersten oder freisten Kategorie.

Claude Longchamp

Uebersicht über alle Indices

Vertiefender Literaturhinweis:
Alexander Gallus, Eckehard Jesse (Hg.): Staatsformen von der Antike bis zur Gegenwart. Wien 2007 (2., erweiterte Auflage)

Aktueller Hinweis:
Gedenktag der Märzrevolution von 1848 in Berlin zum Thema “Freiheit und Demokratie”

Demokratie-Muster

(zoon politicon) Lang schien alles klar: Demokratie beruht auf Wettbewerb, braucht mindestens zwei Parteien, die sich in die Rollen der Regierung resp. der Opposition teilen. Bestimmt wird die Aufgabenverteilung über Wahlen, bei der die Mehrheit entscheidet. So lautete die knappste Demokratiedefinition im Westminster Verständnis.

Doch bekam man damit Probleme, wenn man beispielsweise die schweizerische Demokratie bestimmen wollte. Volksrechte kennt die Definition gar nicht, und von der Möglichkeit, statt auf Konkurrenz auf Konkordanz zu setzen, spricht sie auch nicht.

Die Klassifikation von Arend Lijphart

Den letzten Mangel hat der niederländische Politikwissenschafter Arend Lijphart, der im Eldorado der amerikanischen Universitäten lehrt(e), mit seinem epochalen Werk “Patterns of Democracy”, 1999 erschienen, aufgehoben. Denn ihm ist es gelungen, eine neue Demokratietypologie zu entwickeln und durchzusetzen, welche kulturelle Selbstverständnisse der amerikanisch-britisch geprägten Definitionen überwinden. Dafür hat(te) er 36 Demokratie untersucht, und sie

. entweder als mehrheits-orientiert
. oder als konsens-orientiert

bezeichnet. Dabei entstand nicht nur eine neue Klassifikation, wie es sie in der Demokratieforschung viele andere auch gibt. Lijphart’s Verdienst ist es, seine Demokratie-Unterscheidung auch an 10 klar definitierten, brauchbaren Kriterien dingfest gemacht zu haben:

lijphart1.gif
(Quelle: Adam 2003)

Die Kriterien lassen sich nach Lijphard auf zwei Dimensionen reduzieren: Das Verhältnis von Exekutive und Parteien resp. zwischen Unitarismus und Föderalismus. Daraus entsteht dann auch seine berühmte Landkarte der Demokratien, die bis heute befruchtend wirkt.

Das britische und das schweizerische Muster
Nimmt man nun diese zum Nennwert, dann ist das britische Demokratie-Modell kein Normal- eher ein Spezialfall. Der kann zwar unverändert Vorbildfunktionen haben, Allgemeingültigkeit kann er aber nicht mehr beanspruchen.

kartelijph.gif
Quelle: Lijphart 1999.

Die Schweiz wiederum erscheint auf der Demokratie-Landkarte als Gegenstück. Sie ist, anders als das britische Modell, weder zentralstaatlich noch parlamentarisch ausgerichtet. Sie ist ausgesprochen föderalistisch, fast so stark wie die USA, Kanada, Austrialien und Deutschland, die alle viel grösser sind; und sie ist – unter den untersuchten Staaten – die typischste Konsensusdemokratie, nur noch mit Island und Finnland vergleichbar.

Meine Bilanz
Lijphart’s bleibendes Verdienst ist es, ein neues Verständnis von Demokratieformen entwickelt zu haben. Die Bedeutung der Mehrheitsentscheidung als Definitionskriterium wird dabei relativiert, und durch Prozesse der Verhandlung in und mit Gliedstaaten erweitert. Das macht die politikwissenschaftliche Optik schon mal realistischer. Entsprechend sind Lijphart’s Bemühungen für ein zeitgemässes Demokratieverständis gerade von vergleichenden Politikwissenschaftern aus der Schweiz, wie beispielsweise Jürg Steiner, gebührend gewürdigt worden.

Nicht glücklich bin ich allerdings mit der Terminologie im Deutschen. “Konsensus-Demokratie” sind die wenigstens, die zum britischen Gegenpol gehören; Verhandlungs- und Proporzdemokratien, die auf den deutschen Politikwissenschafter Gerhard Lehmbruch zurückgehen, dagegen schon. Die Typologie sollte also zwischen dem Konkurrenz- und dem Konkordanzmuster unterscheiden.

Damit ist eines der beiden Probleme, die man als SchweizerIn, in der Schweiz oder mit der Schweiz in Demokratieklassierung regelmässig bekommen hat, überzeugend gelöst. Das andere harrt noch der Dinge: Wie man die schweizerische, direkten Demokratie in die allgemeinen Definition einbauen kann, ohne dass man gleich von Sonderfall sprechen muss! Die PolitikwissenschafterInnen unserer Landes haben das eine ungelöste Herausforderung vor sich …

Claude Longchamp

Arend Lijphard: Patterns of Democracy. Government Forms and Performance in Thirty-Six Countries, Yale 1999.

weitere, gebräuchliche Klassifikationen von Demokratien in der Uebersicht von Hermann Adam