Die Schweiz ist das 25. Land des Schengener Abkommens

In den meisten Europa-Fragen ist die Schweiz ein Sonderfall. So fällt sie auf Europa-Karten immer auf. Nichts davon sieht man indessen, wenn der Schengener-Raum abgebildet ist. Denn unser Land ist seit gestern das 25. Vollmitglied des Abkommens. Ein kurzer Rückblick der Entstehungsgeschichte.


Schengen-Raum heute (Quelle: wikipedia)

Die Abschaffung der Binnengrenzen

1985 starteten 5 EU-Staaten mit der Abschaffung der Binnengrenzen. Zwischenzeitlich sind 22 der 27 EU-Staaten Teil des Schengen-Raumes. Norwegen, Island sowie Schweiz gehören als Nicht-EU-Mitglieder ebenfalls dazu.

Das Schengener Abkommen regelt drei Bereiche: die Sicherheits-, Visums- und Asylzusammenarbeit. Einreisebstimmungen sind im Schengen-Raum vereinheitlicht. Mehrfache Asylgesuche in den verschiedenen Mitgliedstaaten sind ausgeschlossen. Und die gemeinsame Sicherheit wird durch verstärkten Kontrollen der EU-Aussengrenzen gewährleistet. In Ausnahmefällen können Personenkontrollen an den Binnengrenzen wieder eingeführt werden. Das war beispielsweise während der Euro ’08 der Fall.

Mit dem Schengener-Abkommen entfallen die Personenkontrollen an der Schweizer Aussengrenze, weil diese izur Binnengrenze im Schengen-Raum wird. Wie Eveline Widmer-Schlumpf, die zuständige Justizministerin, herausstreicht, ist das für das Tourismusland Schweiz von besonderer Bedeutung, selbst wenn die Umstellung zeit- und kostenintensiver war als vorgesehen. Einzig gegenüber Liechtenstein, das dem Abkommen nicht beigetreten ist, besteht eine Sonderregelung. An den Flughäfen tritten die Massnahmen des Abkommens am 29. März 2009 in Kraft. Die Warenkontrollen finden unverändert statt, denn zwischen der EU und der Schweiz gibt es keine Zollunion.

Die Schweizer Entscheidung
Die Schweiz ratifizierte das Abkommen am 16. Oktober 2004. In der Volksabstimmung vom 5. Juni 2005 stimmten 54,6 Prozent für den Beitritt zum Abkommen. Größte Unterstützung fand die Vorlage im Kanton Neuenburg (70,9 Prozent). Am klarsten dagegen votierte der Halbkanton Appenzell Innerrhoden (31,5). Von den Grenzkantonen lehnte das Tessin die Vorlage am stärksten ab (38,1 Prozent Zustimmung).

Die Vorbereitung der Volksabstimmung führte in der Schweiz zum üblichen Konflikt in EU-Fragen. Die SP, die CVP und die FDP befürworteten den Beitritt, die SVP als vierte Regierungspartei bekämpfte ihn. Die Nachanalyse zum Abstimmungsentscheid zeigte, dass die Anhängerschaften grossmehrheitlich entsprechend den Parteiparolen stimmten.

Mehr Unterstützung fand der Beitritt zum Schengen-Abkommen in den urbanen Zentren und in den oberen Schichten. In der französischsprachigen Schweiz fiel die Zustimmung generell noch etwas stärker aus. In der italienischsprachigen Schweiz, auf dem Land und in den unteren Schichten überwog die Ablehnung. Für die Annahme in der Volksabstimmung massgeblich war die mehrheitliche Zustimmung in den Mittelschichten.

Hinter den individuellen Entscheidungen waren Werte von Belang. Die Offenheit gegenüber dem Auslang bestimmte die Zustimmung, während die Unabhängigkeit der Schweiz von eben diesem Ausland für die Ablehnung massgeblich war. Wer modernen Werten nahesteht, Chancengleichheit unabhängig von nationaler Zugehörigkeit konzipiert sieht, war ebenfalls vermehrt auf der Ja-Seite. Traditionelle Wertvorstellungen, insbesondere die Ausrichtung an Ruhe&Ordnung führten zu einer verstärken Ablehnung.

Misstrauen gegenüber “Schengen” wird Christoph Blocher zum Verhängnis

Nicht zuletzt verlief die Polarisierung in der Schengen-Beitrittsfrage entlang des Regierungsvertrauens. Wo dieses überwog, teilte man die befürwortenden Argumente mehrheitlich. Wo indessen das Misstrauen überwog, folgte man den zentralen Botschaften der Opponenten.

Im Abstimmungskampf höchst umstritten war das Verhalten von Justizminister Bundesrat Christoph Blocher, der aus seiner persönlichen Ablehnung der Vorlage entgegen dem Kollegialprinzip öffentlich keinen Hehl machte und mitten im Abstimmungskampf bei der 60-Jahr-Feier zum Ende des 2. Weltkrieges die Bedeutung von Grenzen für die Existenz der Schweizer herausstrich.

Wie Trendanalysen der Meinungsbildung zeigten, lancierte er damit als verantwortlicher Minister die Nein-Kampagne. Seither ebbte aber auch die Kritik am Verhalten des SVP-Regierungsmitglieds nicht mehr ab, die am 12. Dezember 2007 schliesslich zu seiner Abwahl aus dem Bundesrat führte, worauf die SVP aus der Bundesregierung austrat.

Just ein Jahr später wurde das Schengener-Abkommen operativ in Kraft gesetzt. So symbolisch kann Politik auch sein.

Claude Longchamp

Irisches Nein demokratisiert Entscheidung zum Vertrag von Lissabon

Man erinnert sich: Am 14. Juni 2008 verwarf EU-Mitglied Irland in einer Volksabstimmung den Vertrag von Lissabon mit 53 Prozent Nein. Der Reformprozess der EU-Institutionen wurde damit erneut empfindlich gebremst, nicht aber gestoppt. Die gestrige Entscheidung der EU-Kommission verfolgt den wohl sinnvollsten Ausweg aus der Verfassungskrise: Das Führungsorgan setzt auf mehr Integration, und den spezifisch irischen Bedenken wir mehr Rechnung getragen.

Ausweg aus der Verfassungskrise: EU und Irland einigen sich über eine zweite Abstimmung mit modifiziertem Inhalt (Bild: keystone)
Ausweg aus der Verfassungskrise: EU und Irland einigen sich über eine zweite Abstimmung mit modifiziertem Inhalt (Bild: keystone)

Drei mögliche Auswege
Im Oktober dieses Jahres diskutierte man auf Initiative des iri-Instituts Europa am neu gegründete Demokratiezentrum in Aarau (Schweiz) unter Beteiligung von EU-Vertretern Möglichkeiten, um die entstandene Problematik bei der Verfassungsrevision zu lösen. Ausgehend von den schweizerischen Erfahrungen habe ich drei Wege skizziert:

Erstens, die nochmalige Abstimmung über den gleichen Vertrag.
Zweitens, eine weitere Abstimmung über einen modifizierten Vertrag.
Und drittens, eine Reform des ganzen Prozess, bei der die frühzeitige Mitwirkungen potenzieller Opponenten verstärkt wird.

Dem ersten Ausweg entspricht die Analyse, Volksabstimmungen würden, egal wozu sie stattfänden, durch Elitenkommunikation entschieden. Da die irische Ja-Kampagne im Frühsommer 2008 nicht gerade überzeugend war, wäre von einer besser Informations- und Ueberzeugungsarbei im Vorfeld einer weiteren Volksabstimmung ein anderer Abstimmungsausgang zu erwarten. Es ist offensichtlich, dass es sich dabei um ein eher gering entwickeltes Verständnis von direkter Demokratie handelt. Die Bürger und Bürgerinnen sind manipulierbar. Im Wesentlichen werden Abstimmungsausgänge durch Regierungen bestimmt, die Entscheidunge ansetzen, die Inhalte der Diskussion und die Interpretation von Ergebnissen nach ihren eigenen Interessen gestalten können.

Der zweite Ausweg nimmt ein Nein in einer Volksabstimmung für das, was es ist: Für ein Nein zum konkreten Abstimmungsgegenstand. Weder ist die EU gescheitert, noch muss Irland aus ihr austreten. Doch der Vertrag von Lissabon kann in der vorgelegten Version nicht in Kraft treten. Eine zweite Abstimmung in Irland macht nur dann Sinn, wenn der Vertrag angepasst wird und den relevanten Bedenken Rechnung trägt, die zum irischen Nein geführt haben. Dieses Verfahren ist ohne Zweifel demokratischer. Es hat aber den Nachteil, dass es die bisherigen Entscheidungen zum alten Vertragstext relativiert.

Der dritte angesprochene Ausweg ist keine Lösung für den aktuellen Fall. Er ist eine generelle Reform der Willensbildung. Er geht davon aus, dass der Einbau direktdemokratischer Entscheidungen in die insitutionell gesicherte Entscheidung nahe legt, diese selber zu demokratisieren. Das (Ueber)Gewicht der Regierungen determiniert demnach das Ergebnis von Vorschlägen, die später einer Volksabstimmung unterliegen, zu stark. Sinnvoller ist es, auch Parlamente, ja selbst NGO in die Willensbildung miteinzubeziehen, um deren allfällige Bedenken präventiv in die Entscheidfindung einzubauen.

Der Entscheid der EU

Nun hat der jüngste EU-Gipfel in Brüssel unter Nikolas Sarkozy entschieden, was in der Irland-Frage Sache ist: Als Erstes hielt er fest, dass die EU weiter bestehe und der Reformprozess fortgesetzt werden solle. Irland solle entsprechend die Möglichkeit geboten werden, weiterhin ein vollwärtiges Mitglied der EU zu sein. Das spricht für eine relativ rasche zweite Entscheidung. Konkret soll diese im Herbst 2009 stattfinden.

Zweitens sollen sich die Irinnen und Iren zu einem modifizierten Lissabonner-Vertrag äussern können. Generell geändert wird die Vertretung kleiner Mitgliedstaaten in der EU-Kommission. Wie bisher soll jedes Mitglied einen Kommissar stellen können. Damit trägt man dem wichtigsten Bedenken im Vorfeld der Entscheidung in Irland Rechnung. Zudem soll der Vertrag für Irland einige Zusätze bekommen, welche die Neutralität, das Steuerrecht und die Abtreibungsfrage aus irischer Sicht betreffen. Damit sollen Unsicherheiten abgebaut werden, welche die Gegner der Vorlage in der zweiten Abstimmung erneut zu ihren Gunsten mobilisieren könnten.

Die EU-Kommission befürwortet damit den oben skizzierten Ausweg 2. Er ist in der gegenwärtigen Situation ohne Zweifel der sinnvollste. Die Möglichkeit, direktdemokratisch legitimierte Verfassungsänderungen in der EU zu bekommen, bleibt gewahrt. Die Bedenken der Stimmenden sind aufgenommen. Mit der vermehrten Berücksichtung der Komponente Integration in den EU-Institutionen wurde dem föderalistischen Charakter der Europäischen Union vermehrt Rechnung getragen. Dem müssen zwar die anderen Mitgliedstaaten noch zustimmen. Doch hat Prozess selber einen Lernschritt gemacht, der für direktdemokratische Entscheidungen typisch ist.

Claude Longchamp

Neues Zentrum für Wahlforschung in Oesterreich

Grosser Tag für die Wahlforschung in Oesterreich. Denn der Oesterreichische Wissenschaftsfonds hat erstmals ein politikwissenschaftliches Forschungsnetzwerk bewilligt. Erster Koordinator des Zentrums für Wahlforschung, das an der Universität Innsbruck angesiedelt wird, ist der ausgewiesene Politikwissenschafter, Wahl- und Kommunikationsforscher Fritz Plasser.


Universität Innsbruck, dem Sitz des neuen Wahlforschungsnetzwerk in Oesterreich

Das nationale Forschungsnetzwerk soll den Aufbau eines Wahlforschungsprogramms vornehmen und dieses bei den nächsten Nationalratswahlen “exemplarisch umsetzen” sowie seine “Institutionalisierung” ermöglichen. So heisst es in der offiziellen Erklärung. Gemeint ist damit, dass die bisher partei- und institutsbezogene Wahlforschung in Oesterreich zentralisiert und auf eine wissenschaftliche Basis gestellt werden soll. Die rückwärtigen Analysen sollen aufgearbeitet und der Forschung zugänglich gemacht werden. Und als Ganzes will das Netzwerk den Anschluss an die amerikanischen resp. internationalen akademische Wahlforschung zu gewährleisten.

Neben der Analyse der WählerInnen und der politischen Parteien soll unter anderem auch eine Untersuchung der Medienberichterstattung und der Dynamik des Wahlkampfes durchgeführt werden.

Das Projekt wird von dem Innsbrucker Politikwissenschaftler und Dekan der Fakultät für Politikwissenschaft und Soziologie Universitätsprofessor Fritz Plasser koordiniert und soll in Zusammenarbeit mit der Universität Innsbruck und der Universität Mannheim durchgeführt werden.

Im November 2008 war ich ja selber in Innsbruck, und habe ich Fritz Plasser, dem ich mich seit 15 Jahren verpflichtet fühle und für den ich zahlreiche Beiträge in Sammelbänden geschrieben habe, getroffen. Er hat mir voller Stolz vom Vorhaben berichtet und vom nationalen und internatinalen Qualifizierungsprozess erzählt. Leicht lakonisch fügt er bei, wenn die jetzige Regierung hält und das Parlament nicht vorzeitig aufgelöst wird, werde er die kommenden Wahlen bereits als pensionierter Hochschullehrer erleben. Dennoch freut er sich sehr, seinen persönlichen Beitrag zur Institutionalisierung der Wahlforschung in Oesterreich, die er massgeblich weiter entwickelt hat, noch koordinieren zu können.

Ich gratuliere Fritz Plassser und den Innsbrucker Politikwissenschafter zum tollen Erfolg!

Claude Longchamp

Zur vergleichbaren Institution in der Schweiz: Selects

Die Bundesratswahl in der Retrospektive (Bundesratswahlen 2008/Teil 14)

Die Bundesratswahlen sind vorbei. Gewählt wurde SVP-Nationalrat Ueli Maurer. Er erreichte im dritten Wahlgang mit 122 Stimmen genau das nötige absolute Mehr. Sein härtester Widersacher, SVP-Nationalrat Hansjörg Walter, erreichte 121 Stimmen. Was für Ueberlegungen bestimmten die Wahl, und was entschied sie? Eine Auslegeordnung.


“Ich schwöre” – Ueli Maurer bei der Vereidigung als neuer SVP-Bundesrat


Möglichkeiten und Grenzen der Konkordanz

Der Wille, die Konkordanz zwischen den grossen und grösseren Parteien wieder herzustellen, war die entscheidende Triebfeder hinter der Wahl. Der Anspruch der SVP, nach einem Jahr Opposition wieder im Bundesrat vertreten zu sein, wurde mit Ausnahme der Grünen nicht grundsätzlich bestritten.

Die Diskussion im und ausserhalb des Parlamentes zeigte aber auch, dass es kein gemeinsam verbindliches Verständnis davon gibt, wie Konkordanz bei Bundesratswahlen hergestellt werden soll. Seit 2003 dominiert die rein rechnerische Definition, wonach die Parteistärke, anhand des WählerInnen-Anteils bei den letzten Nationalratswahlen bestimmt, allein darüber entscheide, wer wie stark im Bundesrat vertreten sein solle. Unterstützt wird diese Regel selbstredend von der wählerstärksten Partei ausserhalb des Bundesrates, der SVP. Aufgrund der Erfahrungen, die man mit Christoph Blocher als SVP-Bundesrat gemacht hatte, formierte sich im Parlament die “Gruppe 13”, die einen gegenteiligen Standpunkt entwickelte. Demnach müsse Konkordanz auch inhaltlich bestimmt werden. Die Anerkennung der Verfassung, der internationalen Verpflichtung, die Achtung des Staates, seiner Institutionen und VertreterInnen wurden als Konkretisierung davon aufgegriffen und als Kriterien für die die Konkordanzfähigkeit der SVP, aber auch ihrer Bewerber angewendet.

Die Kontroverse um die Wahlfreiheit

Vor allem strittig war die Frage, mit wem die SVP in der Bundesregierung vertreten sein könne. Die SVP selber vertrat nach ihren Erfahrungen mit der Wahl von SVP-Regierungsrätin Eveline Widmer-Schlumpf als Ersatz für Christoph Blocher dezidiert die Auffassung, sie alleine bestimme, wer sie im Bundesrat vertrete. Zuerst war sie versucht, ausschliesslich auf Christoph Blocher zu setzen; die Fraktion befürwortete dann auf Druck der Regierungsparteien ein Zweiticket mit Ueli Maurer, um angesichts des Widerstandes nicht gänzlich zu scheitern. Ihren Standpunkt unterstrich sie mit der Ausschlussklausel, die neu in die eigenen Statuten aufgenommen wurde, um wilde Kandidaturen, die erfolgreich sein könnten, abzuschrecken, im Notfall auch aus der Partei auszuschliessen.

Die anderen Parteien kritisierten mehr oder minder stark, damit stelle die SVP die Parteiraison über die Bundesverfassung, welche dem Parlament bei der Bestellung des Bundesrates Wahlfreiheit garantiere. Entsprechend fühlte man sich mit Dauer der Debatte zunehmend frei, auch für andere SVP-Vertreter als die Nominierten zu stimmen.

Der polarisierte Wahl
Die Fragestellung polarisiert das Parlament schliesslich entlang der Links/Rechts-Achse. Die FDP-Fraktion akzeptierte den Anspruch der SVP auf den freigewordenen Sitz im Bundesrat und empfahl Ueli Maurer zur Wahl. Die SP bestritt den Anspruch der SVP im Bundesrat ebenso wenig grundsätzlich; sie lehnte aber beide Kandidaten ab. Die CVP schliesslich hatte in der Personen von Fraktionschef Urs Schwaller die Idee lanciert, Ueli Maurer zum neuen SVP-Bundesrat zu machen, wurde durch die anschwelende Polarisierung weitgehend gespalten. Schliesslich formierte sich knapp eine Woche vor der Wahl unter Sammlung von Eugen David und Christine Egerszegi eine Mitte/Links-Allianz, welche nach einer Alternative zu Ueli Mauerer in der SVP-Fraktion Ausschau hielt und schliesslich in der Personen von Hansjörg Walter fündig wurde.

Im CVP-Hearing einen Tag vor der Wahl setzte sich Ueli Maurer von 23 von 45 gültigen Stimmen durch. Zusammen mit der Fraktionsempfehlung der FDP, und der Hausmacht in der eigenen Partei war das die Basis für die nachmalige Wahl. Nach Angaben von Mitgliedern der CVP-Fraktion dürfte Doris Leuthard den Ausschlag gegeben haben. Die Volkswirtschaftsministerin wehrte sich gegen weitere Experimente mit dem Regierungssystem, forderte angesichts negativer Wirtschaftsaussichten eine Sammlung aller Kräfte im Bundesrat und sprach sich für Ueli Maurer als neuen SVP-Bundesrat aus.

Die Ergebnis
Gewählt ist Ueli Maurer als neuer SVP-Bundesrat, womit die Schweiz erstmals eine Landesregierung aus fünf Parteien hat. Die Konkordanz ist grundsätzlich wieder hergestellt, die SVP hat einen ihrer Nominierten durchgebracht und der Widerstand hierzu macht sich im knappest möglichen Wahlergebnis bemerkbar. Das Ergebnis selber wurde von niemandem bestritten. Auf Ueli Maurer sind viele Hoffnung gerichtet, aber ebenso viele Argusaugen. Und die gerettete Konkordanz wir weiterhin machtpolitisch bestimmten Auslegungen ausgesetzt sein.

Claude Longchamp

Schweigen, Spekulieren und Staunen (Bundesratswahlen 2008/13)

Täglich, ja stündlich werden wir über die Stimmungslage im Bundeshaus informiert. Die Meinungsmacher um und in den Medien geben den Tenor vor. Doch was soll man davon halten?


blau: Maurer, schwarz: andere, rot: Blocher, grün: Recordon

Interessanterweise schweigen ausgerechnet die Medienwissenschafter zum gegenwärtig interessantesten Phänomen, das sie betrifft. Wie konstruieren Medien Stimmungslagen zu Bundesratswahlen. Suchen sie Aufmerksamkeit? Dramatisieren sie? Oder sind sie Partei? Keine Antwort erhält man dazu von den Analysten des Fach, sonst jedes Medienphänomen deuten können.

Politikwissenschafter sind da schon etwas freier, aber nicht ohne Widerspruch. Für Michael Hermann ist alles klar. Maurers Wahlchancen liegen seiner Meinung nach bei 70 zu 30. Auch Hans Hirter sieht Maurer vorn, wenn auch nur ganz knapp. Gleiches verkündet Iwan Rickenbacher, sogar mit Nüancen: Lange sagte er auf NZZ Votum: “Es wird knapp.” Jetzt fügt er bei “knapp zugunsten von Maurer.” Georg Lutz, der jüngste im Kreise, mag nicht mehr mithalten beim Rätselraten. Den Journis empfiehlt er Mike Shiva zu befragen. Alles andere sei zu riskant geworden.

Da scheint mir die Wahlbörse von SF am interessantesten zu sein. Unabhängig von persönlichen Präferenzen bestimmt sie jeden Tag den Marktwert der Kandidaten. Maurer war fast immer der Favorit der Spekulierer. Seine Aktie lag lang bei 80 bis 70 Handelseinheiten. Am Sonntag gabs dann einen Taucher, runter auf unter 50. Plötzlich lagen “andere” vorne, mit 70 Einheiten. Schon am Montag überrundete Maurer die Namenlosen wieder. Die Werte im Moment des Schreibens sind 50 für Maurer, 38 für andere, je 0,0 für Blocher und Recordon.

Nicht einmal Ueli Maurer mag die frohe Botschaft hören. Er sieht seine Chancen auf unter 50 Prozent. Doch das passt zum understatement, das der Kommunikationsprofi den ganzen Wahlkampf hindurch gepflegt hatte.

Fazit: Wir wissen zwar nicht, wer morgen gewählt wird. Wir haben aber keine, spekulative und quantifizierte Erwartungen, die uns verdinglichen, was uns die Massenmedien täglich vorführen.

Was nur, wenn sie sich die Medien wie vor Jahresfrist täuschen? “Nichts geschieht”, hiess es selbst am Morgen des 12. Dezembers 2008. Eine Instant-Analyse von Kurt Imhof über die Befindlichkeit der Medien vor Wahlen wäre doch wichtig gewesen.

Claude Longchamp

Der Herbst der jetzigen Bundesratswahlen (Bundesratswahlen 2008/12)

Einen Tag vor der spannenden, aber auch unklaren Ersatzwahl für Bundesrat Samuel Schmid meldet sich der neue Zürcher Staatsrechtler Andreas Auer zu Wort. Im Tages-Anzeiger von heute kritisiert er das Regierungssystem, das unverändert die Züge von 1848 trage und nicht mehr zur heutigen Zeit passe. Er spricht sich für die Volkswahl der Regierung aus.

Andreas Auer, seit 2008 Professor für Staatsrecht an der Uni Zürich
Andreas Auer, seit 2008 Professor für Staatsrecht an der Uni Zürich

Die Wirren um die Nachfolge von Samuel Schmid gefallen dem Staatsrechtler nicht. Zwar nennt er die Uneinigkeit der Parteien nur vorsichtig als Grund, und auch die Medialisierung der Nomination wird eher zurückhaltend erwähnt. Doch sieht Auer in der Oeffnung der Bundesratswahlen über den Raum des Bundesversammlung hinaus ein Ungleichgewicht aufkommen: Das Volk, in der direkten Demokratie gewöhnt, alles zu entscheiden, wird in der zentralen Personenfrage auf Zuschauen zurückgebunden.

Andreas Auer spricht sich klar für die Volkswahl eines institutionell erneuerten Bundesrates aus. Hier seine zentralen Forderungen:

. Die Bundesregierung setzt sich inskünftig auf BundesrätInnen und MinisterInnen zusammen.
. Die Bundesräte werden vom Volk gewählt. Sie müssen die Landesteile repräsentieren nicht die Kantone. Der Bundesrat leitet die Geschäfte politisch.
. Das Parlament bestimmt die Minister, welche die Departemente führen.
. Die Zahl der Departement wird erhöht, um einen Grössenausgleich zu schaffen.
. Die Amtszeit wird generell beschränkt.

Auer stellt sich die Frage, warum die Volkswahl von Regierungen in den Kantonen klappen, beim Bund aber versagen sollen. Die Berechenbarkeit von Bundesratswahlen – bisher das wichtigste Argument für den Status Quo – entfalle nämlich zusehends. Und in den Kantonen werde mit ausgleichendem Wahlrecht und Wahlabsprachen unter den Parteien sehr wohl Rücksicht auf eine ausgewogenen partei- und regionalpolitische Zusammensetzung genommen.

Der Staatsrechtler attestiert, die voraussichtlichen Wahlkampfausgaben seien die Schwäche des Vorschlags. Sie müssten geregelt werden. Die Schwäche des heutige Systems sei, dass man, um der Ohnmacht der BürgerInnen Ausdruck zu verleihen, der Wahl der Regierung in Medien immer deutlicher mit obskuren Machenschaften in Verbindung bringe.

Das sei der Demokratie nicht würdig.

Claude Longchamp

Die Geburt der Opposition am 6. Dezember 1992 (Bundesratswahlen 2008/11)

Am 6. Dezember 1992 wurde über den Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum abgestimmt. Das Nein zum EWR prägte die Mentalität des schweizerischen Nationalkonservatismus, die bis heute unverändert wirksam ist.

Der Abstimmungstag zum EWR
An diesem Tag habe ich erstmals bei einer eidgenössischen Volksabstimmung im Leutschenbach gearbeitet, um eine Hochrechnung zu machen. Am 6. Dezember 1992 kam selbstredend Christoph Blocher in die TV-Hallen. Im Nu waren alle Blicke auf ihn gerichtet. Denn vor allen stand der Held des Tages, der weiten Teilen von Politik und Wirtschaft widersprochen und vom Volk recht bekommen hatte.

Wie nun würde er sich verhalten?, war die Frage, die man sich im und wohl auch ausserhalb des Studios stellte: als Brückenbauer, als Mediator, als Staatsmann?

Der stilbildende Moment
Die Antwort, die Christoph Blocher an diesem Abend gab, sollte bis heute stilbildend für den schweizerischen Nationalkonservatismus werden. Sie lautete: “Nein! Es ist nicht an uns, die Verantwortung zu übernehmen. Das ist die Aufgabe der Anderen, welche die Entscheidung gesucht haben.”

Genau gleich reagiert man im nationalkonservativen Lagern nämlich bis heute gegenüber dem Bilateralismus. Jede Form der Weiterentwicklung wird erneut bekämpft, als würde man wie 1992 wieder Fehler machen. Das gilt für Finanzhilfe zur Osterweiterung genauso wie bei der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zu Kontrollzwecken. Und es ist bei der Personenfreizügigkeit mit den Mitgliedstaaten bis in die Gegenwart der Fall. Obwohl zwischenzeitlich die Mehrheiten regelmässig anders lauten als 1992.

Geblieben ist aber das Reaktionsmuster der Opposition: Wiederum sind “die Andern” Schuld, die das Verfahren festgelegt haben, wie wir über die definitive Verankerung der ersonenfreizügigkeit zu entscheiden haben. Das sei es, sagt man jetzt, was Christoph Blocher, die SVP und die AUNS erneut zwinge, die Ablehnung zu unterstützen.

Meine Kritik
Ich habe eine andere Auffassung: Die Oppositionsbewegung, die mit dem Nein zum EWR ausgelöst wurde und die Machtbasis der Populisten in ihrem politischen Kampf um die Macht darstellt, bleibt nur erhalten, wenn man sich stets im Widerspruch zur Mehrheit verhält, das Volk für sich pachtet und so unveränderten Druck ausübt. Denn so zwingt man die Regierungspolitik, sich einem selbst anzupassen, ohne selber integriert zu werden. Dabei ist es ziemlich egal, ob man selber Teil der Regierung ist oder nicht.

Die Entwicklung der Politik in einem für die Schweiz zentralen Dossier, stelle ich dem entgegen, sollte nicht aus der Logik des konstanten Nein-Sagens bestimmt sein. Vielmehr sollten Siege der Opponenten bei Abstimmungen bewirken, dass sich die Mehr- und Minderheit aufeinander zugehen, um wieder gemeinsam Ja zur Verantwortung zu tragen. Der Bilateralismus war und ist das Angebot der Verlierer vom 6. Dezember 1992. Jetzt ist es an den Siegern von damals ihre Lektion zu lernen.

Claude Longchamp

Für die Bilateralen bloggen

Gleich drei Bundesrätinnen läuteten gestern den Abstimmungskampf zur einzigen gesamtschweizerischen Volksabstimmung vom 8. Februar 2008 ein. Die Parteipräsidenten aller grösseren Parteien ausserhalb der SVP sind ihnen vorausgegangen. Jetzt erhalten sie Unterstützung in der Blogosphäre.


Parteipräsidenten für die Bilateralen werden jetzt vom Bloggern für die Bilateralen unterstützt

Die Anfänge
Seit einigen Tagen hat es auf der Website zu den “erfolgreichen Bilateralen” ein Kampagne-Blog zur Fortführung und Erweiterung der Personenfreizügigkeit gegenüber der EU. Es soll die Besuche auf der Plattform steigern helfen, und es soll den eingeläuteten Abstimmungkampf befruchten.

Die ersten Beiträge sind von den Campaignern selber geschrieben, die seit vielen Jahren in vielen Abstimmungskämpfen, nicht zu letzt in allen Europa-Abstimmungen der Schweiz aktiv waren. Ihnen geht es um Mobilisierung. Um Werbung für die Oeffnung der Schweiz. Um die Beruhigung aufkommender Aengste. Um die eigenen Positiv- und Negativ-Botschaften. Und um Lesehilfen zu aktuellen Ereignissen.

So wie es bisher daher kommt ist es ein Sprachrohr des Komitees, das der Wirtschaftsverband economiesuisse betreut. Es will die Möglichkeiten nutzen, sich im Internet zu äussern, um die rund 4 Millionen SchweizerInnen anzusprechen, die heute einen Bildschirm mit Internetanschluss an ihrem Arbeitsplatz oder zu Hause haben. Dies ist die wohl grösstmögliche Zielgruppe, die sch auf 3-400000 Menschen verringert, welche das Internet während Abstimmungskämpfen zur Information und zur Meinungsbildung nutzen.

Die Perspektiven
Ich kenne zwei Entwicklungswege von Kampagne-Blogs: den direkten, der auf Verbreitung in der Gratispresse als verbreitetster Zeitung unter Stimmenden zielt, und den indirekten, de sich an MultiplikatorInnen in politischen Meinungsbildungsprozessen richtet.

Im ersten Fall gilt es rasch Ereignisse rund um das Blog aufzubauen. Die Gegner der EU, der Bilateralen und der Personenfreizügigkeit sollen gezielt aus der Reserve gelockt werden. Vornehme Zurückhaltung im Auftritt ist das nicht angesagt. Virtuell Krachen soll es, sodass man hinschaut. Zwar hat es gegenwärtig kein eigenes Blog der Nein-Kampagne, doch werden deren Standpunkte auf SVP-nahen Blogs wie die von Snoop oder Smythe Style gut vertreten resp. werden sie von SideEffects schnell vervielfältigt. Das lässt ein Pingpong der Protagonisten hüben und drüben erwarten, die sich im “Blick am Abend” oder im “punkt.ch” spieglen könnte.

Im zweiten Fall zielt vielmehr darauf ab, eine erweiterte Plattform der opinion leader auf der befürwortenden Seite zu werden. Die AktivistInnen in der Kampagne sollen mit kommunikativen Mittel geführt werden. Prominente Unternehmer müssen sich dann äussern, Wissenschafterinnen zu interkulturellen Erfahrungen solten sich outen, und AbstimmungskämpferInnen aus den Kantonen könnten über ihre Erfahrungen mit Argumenten berichtet. Eingeladen werden sollten kritischen BeobachterInnen der Ja-Kampagne, die das Geschehen analyisieren, kommentieren und ihm so ihren Dreh verpassen. Die direkte Verwendung zählt nicht, jedoch der Einfluss durch Multiplikation.

Mein Empfehlung
Im vorliegenden Fall scheint mir der zweite Entwicklungspfad angezeigter. Doch lasse ich mich gerne überraschen. Ich bin jedenfalls gespannt, was aus der Blogosphäre wird, und ob es die Stimmen der drei Bundesrätinnen, die sich engagieren werden, verstärken kann. Ich jedenfalls werde das Experiment des Bloggens für die Bilateralen bis am morgen des 8. Februars 2009 aufmerksam verfolgen.

Claude Longchamp

siehe auch:
Gegen die Personenfreizügigkeit bloggen

Gekonnte Analyse aus der Distanz (Bundesratswahlen 2008/10)

Gestern hielt Adrian Vatter an der Uni Zürich seine Antrittsvorlesung als ordentlicher Professor für schweizerische Politik. Sie trug den Titel “Die schweizerische Konsensdemokratie im Umbruch – Auf dem Weg zur Mehrheitsdemokratie?” und nahm indirekt zum den anstehenden Bundesratswahlen Stellung.

Am 10. Dezember wählt die Bundesversammlung den Nachfolger von Samuel Schmid als Bundesrat. Ueli Maurer ist in der Pole-Position; und mit ihm würde die SVP nach kürzerer Zeit wieder in den Bundesrat eintreten. Die Episode der Opposition zum Bundesrat wäre damit vorbei.


Charakteristik der schweizerischen Demokratie nach Vatter: Machtteilung durch ausgebauten Föderalismus, entwickelte direkte Demokratie und Bi-Kameralismus lassen insgesamt eine Mehrparteienregierung als sinnvoll erscheinen.

Die neue Analyse der schweizerischen Demokratie
Würde die Schweiz damit zum Muster für Konsensdemokratie zurückkehren? “Nein”, sagt Adi Vatter, denn sie hat sich von diesem Demokratie-Typ schon länger wegentwickelt. Auch ohne das Jahr 2008 verweisen die Indikatoren zur Bestimmung von Einheits- und Mehrheitsdemokratien auf eine Normalisierung des früheren Spezialfalles hin.

Nach diesem Einspruch wurde gestern eine neue vergleichende und schweizspezifische Analyse, die darauf ausgrichtet ist, eine neues Verständnis von Demokratie-Typen zu finden. Arend Lijpharts Klassierung bildet dabei den Ausgangspunkt, ohne bei ihr stehen zu bleiben, denn nach Vatter gilt es diese weiterzuführen und zu erweitern. Es müssen heute drei Fragen gleichzeitig geklärt werden:

. Erstens, wie viel Konsens bestimmt die Entscheidfindung?
. Zweitens, wie stark ist der Regionalismus im politischen System verankert?
. Drittens, wie stark ist die direkte Demokratie im Gefüge der Institutionen berücksichtigt?

Vatters Antworten für die Schweiz lauten: Die Entscheidfindung wird zunehmend durch Parteienpolitik gekennzeichnet. Das spricht gegen Konsens. Das föderalistische und direktdemokratische Fundament der Schweiz legt indessen unverändert nahe, nach dem Konkordanz-Mustern zu kooperieren.

Die naheliegenden Folgerungen
Vatter sieht die Schweiz von heute als Verhandlungsdemokratie auf Konkordanzbasis. Bis zum Uebergang zur Mehrheitsdemokratie nach britischen Muster fehlt jedoch noch viel. Ohne Reduktion der kantonalen Mitsprache und der ausgebauten Volksrechte wird das auch kaum gehen. Mehrparteienregierungen erscheinen deshalb als treffende Antwort auf die heutigen Voraussetzungen zu sein. Das lässt sich nach der Antrittsvorlesung klar, wenn auch nicht genauer festhalten.

Mit Blick auf den übernächsten Mittwoch ergibt dies die nachstehende Empfehlung: Die grossen Parteien sollen im Bundesrat vertreten sein. Es ist jedoch nicht mehr mit Konsens-Politik zu rechnen, sondern mit ausgehandelten und wechselnden Mehrheiten zwischen den Parteiinteressen, die sich von Fall zu Fall ergeben.

Wer an diesem Abend dabei war, bekam eine gekonnte Analyse der schweizerischen Gegenwart geliefert, theoretisch innovativ, empirisch gut unterlegt und nicht ohne Folgerungen für die Praxis. Anregend war sie, weil sie mit kühler Distanz erfolgte. Doch auch wer gestern nicht dabei war, kann dieser Tage mitverfolgen, ob sich die Politik in ihrer gegenwärtigen Aufgeregtheit an Schlüsse eines führenden Politikwissenschafters an den Schweizer Universitäten hält. Bald wissen wir mehr!

Claude Longchamp

Vom Spekulieren vor Wahlen (Bundesratswahlen 2008/9)

Hochrechnungen im Abstimmungsstudio wie die gestrige finden mitten in einem politischen Biotop statt. Das lässt auch atmosphärische Rückschlüsse zum Stand der politischen Debatten zu. Anders als in den Medien, die sich auf das Sensationelle und damit auch auf das Unwesentliche stürzen, eröffnet dieser Zugang zur Politik eine Sichtweise auf die Taktiken der politischen Parteien, die sich in einem System rational verhalten müssen.

Die Spekulationen vom Sonntag bestimmen die Debatten seit Montag; hier das Cover der aktuellen Weltwoche
Die Spekulationen vom Sonntag bestimmen die Debatten seit Montag; hier das Cover der aktuellen Weltwoche

Beobachtungen 1
Die Sonntagspresse hatte die Idee der bisher unbekannten “Gruppe 13” lanciert, die den republikanischen Geist, der die Abwahl Christophs Blocher aus dem Bundesrat erlaubt hatte, aufrecht erhalten will. PolitikerInnen aus dem rot-grünen, aber auch bürgerlichen Lager, die gegen eine vom Blocher&Co. dominierte SVP im Bundesrat sind, versuchen, die Regeln der Konkordanz resp. der Beteiligung von Parteien an der Bundesregierung neu zu formulieren. Die rein arithmetische Zulassung soll durch eine inhaltlich erweitert werden. Faktisch läuft das in der gegenwärtigen Leseweise auf die kleine Konkordanz-Regierung mit SP, FDP, CVP und Grünen hinaus.

Beobachtungen 2

Unter den anwesenden FDP-PolitikerInnen im Abstimmungsstudio fand dieser Vorschlag kaum Gefallen. Die Interessenlage der Partei spricht dagegen. Bei einer Rückkehr der SVP in die Regierung kann sie ihre Vormachtstellung auf der rechten Seite behalten. Unter Vermittlung von rechten Projekten zwischen SVP und BDP bleibt die FDP nicht auf die CVP und SP angewiesen, will sie politsiche Vorgaben machen. Ein zweiter CVP Bundesrat würde das Machtzentrum in der Landesregierung verlagern, mit finanz-, wirtschafts- und gesellschaftspolitischen konsequenzen. Konkret begründet wird dies etwas weniger eindeutig: Man traue dem Parlament nicht zu, dass es angesichts der zahlreichen persönlichen, regionalen und politischen Interessen einen Richtungsentscheid zugunsten von Mitte-Links wolle. Deshalb werde Maurer gewählt werden.

Beobachtungen 3

Die CVP wiederum verfolgt das Ziel, den Regeln der Konkordanz unter Einschluss der SVP Nachachtung zu verschaffen. Thematische Zusagen der SVP braucht es dafür nicht mehr, wie das anfänglich gefordert wurde. Verlangt wird aber ein klares Bekenntnis zum Konkordanzverhalten. Halbe Beteiligung und halbe Opposition stösst auf Ablehnung. Druck ausgeübt werden soll bei den Hearings vor allem auf den Kandidaten Maurer, denn Blocher stehe ausserhalb der Diskussion. Wenn dieser sich klar von der Oppositionspolitik aus Prinzip distanziert, hat er die Unterstützung der CVP, wenn nicht, riskiert er, dass der Fächer der wählbaren Kandidaten im letzten Moment geöffnet wird, auch ausserhalb der SVP. Die CVP weiss darum, dass sich Maurer und Widmer-Schlumpf nicht vertragen werden. Das ist ihre Chancen, das Machtzentrum in der Regierung zu bilden.

Verarbeitungen

Klar ist, dass das alles nur Eindrücke sind. Sicher ist aber, dass sie von repräsentativen Vertretern der Parteien stammen. Anders als Medienverlautbarungen, die stets auch geschliffen sind, haben sie indessen den Charakter des authentischen. Politikwissenschaftlich sind sie nicht von hoher Bedeutung. Für die Strategieanalyse des kollektiven Verhaltens vor entscheidenden Wahlen sind sie aber instruktiv. Sie zeigen vor allem, dass Medien auf news, denen leicht geheimnishaft anmuten, aufspringen, PolitikerInnen darauf jedoch reserviert reagieren. Diese versuchen, den Preis, den Konkurrenten oder Partner bei Wahlen zahlen müssen, so hoch zu treiben, dass für einem ein Optimum abfällt.

Vorläufiger Schluss

Denn erfahrene Parteivertreter wissen eines: Bei der nächsten Ersatzwahl, die einen Bundesrat auf ihren Reihen betrifft, läuft das Ganze mit umgekehrten Vorzeichen vergleichbar ab. Deshalb gilt es, heute den Preis zu lösen, den man morgen selber bezahlen will.

Claude Longchamp