“Selects”- die akademische Wahlforschung in der Schweiz

(zoon politicon) “Selects” heisst die Studienreihe zur akademischen Wahlforschung in der Schweiz. Den Namen kann man auf zwei Arten deuten: als “Swiss Electoral Studies” und als “Auswahl” aus der Wahlforschung in der Schweiz. Beides ist wohl richtig.

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Ziel des Projektes “Selects” ist es, die Wahlforschung in der Schweiz zu professionalisieren, weiterzuentwickeln und zu institutionalisieren, um den Rückstand gegenüber der internationalen Wahlforschung aufzuarbeiten, den sich die Schweiz aufgrund ihrer eher direktdemokratischen Ausrichtung eingehandelt hat.

Ins Leben gerufen wurde Selects mit Blick auf die Parlamentswahlen von 1995. Seither sind drei eidgenössische Wahlen untersucht worden. Hinzu kommen einige Dissertationen, Spezialstudien und Fachartikel, die mit dem Material von Selects (Bevölkerungsbefragung, Interview mit Kampagnenakteure, Medienanalysen) entstanden sind.

Heute ist die Studienreihe ins Institut für empirische Sozialforschung der Universität Lausanne, kurz FORS, integriert. Die Datensätze sind via SIDOS abrufbar. Geleitet wird das Projekt seit anfangs 2008 vom Politikwissenschafter Georg Lutz.

Das Forschungsprojekt Selects wird von der Bundeskanzlei, der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften SAGW und dem Schweizerischen Nationalfonds SNF unterstützt.

Die Ergebnisse von resp. bis 2003 sind sowohl von den akademisch geschulten ForscherInnen als auch vom Bundesamt für Statistik analysiert und beschrieben worden. Das macht die Studienreihe als Nachschlagewerk ganz nützlich.

Die Vermittlung über das speziell interessierte universitäre Fachpublikum hinaus ist aber noch nicht geglückt. Die Präsentation der wissenschaftlichen Studienergebnisse von 2003 mit speziellen Regressionsanalysen blieb weitgehend unverstanden, und die Zuspitzung 2007 auf das Thema, Frauen würden sich für Politik immer wengier interessieren, war bei Wahlforschern heftig umstritten.

Die eigentliche Wahlstudie zu den Parlamentswahlen 2007 liegt noch nicht vor. Auch deshalb bleibt der vorläufige Eindruck, dass mit “Selects” die Schweizer Wahlen aus der akademisch-selektiven Position untersucht werden.

Claude Longchamp

Publikationsliste Selects
Daten Selects

Handbuch der Wahlforschung (in Deutschland)

(zoon politicon) Wahlforschung gehört weltweit zu den entwickeltsten Zweigen der Sozialwissenschaften. System- und Akteurstheorien verbinden sich in ihr. GeographInnen, SoziologInnen, OekonomInnen, PsychologInnen, KommunikationswissenschafterInnen und StatistikerInnen lieferten ihre Beiträge, die direkt oder durch die Politikwissenschaft vermittelt in die Wahlforschung einflossen. Doch damit nicht genug: Neben die multi- und interdisziplinären Grundlagenforschung, die weltweit betrieben wird, treten heute global gesehen immer mehr praxisorientierte Forschungsinstitute auf, die angwandte Bevölkerungsuntersuchungen oder Medienanalysen betreiben, und bestrebt sind, Lehre zu, Forschung über und Beratung von Politik miteinander zu betreiben.

Kann man da den Ueberblick bewahren? – Individuell wohl kaum; kollektiv jedoch schon!

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Wer auf Deutsch eine Uebersicht über die Wahlforschung in Theorie und Praxis aus berufener Hand haben will, der greift heute unweigerlich zum “Handbuch Wahlforschung”, das Jürgen Falter und Harald Schoen von der Universität Mainz 2005 herausgegeben haben. Unverändert reflektiert es den Stand der Wahlforschung, mindestens auf Deutschland bezogen.

Die 830 Seiten liesst man kaum in einem Zug. Aber man wird sie auszugsweise verarbeiten. Hierzu offeriert einem das Handbuch fünf unterschiedliche Zugänge:

. die Grundlagen der Wahlforschung (Wahlen und Demokratie, Geschichte der Wahlforschung, Methoden und Daten)

. die Theorien der Wahlforschung (Wahlgeografie, Soziologie, Sozialpsychologie, Oekonomie, Theorievergleiche)

. spezielle Fragestellungen der Wahlforschung (Nichtwahl,Wechselwahl, Wähler extremistischer Parteien, Wertwandel resp. Persönlichkeit und Massenmedien und Wahlverhalten)

. ausgewählte Gebiete der Wahlforschung (Wahlkampfforschung, Historische Wahlforschung, Wahlsystemforschung) und

. eine Kritik der empirischen Wahlforschung in Deutschland

Das Werk ist stark textorientiert, hat aber auch Tabellen und Grafiken zu Verdeutlichung. Abgerundet werden die Beiträge durch ein ausführliches Glossar resp. Literaturverzeichnis.

Interessant sind die Feststellungen der Autoren zum Fortschritt in der Wahlforschung. Die wesentliche Verbesserung sehen sie in der Verlagerung von Erklärung aus dem Umfeld auf das Individuum. In der Einstellungsforschung konkurrieren heute Oekonomie und Sozialpsychologie. Einen weitere Fortschritt vermuten die Herausgeber denn auch in der Erweiterung der ökonomischen Wahltheorie durch sozialpsychologische Erkenntnisse. Das ist wohl eine der treffenden Antworten. Die anderen, im Buch leider unterbewertete, ist die Erweiterung des sozialpsychologischen Theorie durch neue Erkenntnisse aus der Kommunikationswissenschaft.

Vom Anspruch her ist das Buch nicht geeignet, wer sich nicht für Wahlforschung interessiert. Es richtet sich aber auch nicht nur an die Top-Vertreter der Disziplin. Es ist so gemacht, das beispielsweise Studierende, die sich mit Wahlen und ihrer Erforschung auseinandersetzen müssen, mit Bedacht, gründlich und verständlich eingeführt werden.

Vielleicht, könnte man kritisieren, wäre eine Erweiterung des Handbuches auf Oesterreich und die Schweiz angezeigt gewesen, um das Referenzwerk auf Deutsch und für den deutschsprachigen Raum vor sich zu haben.

Claude Longchamp

Jürgen Falter, Harald Schoen (Hg.): Handbuch Wahlforschung, Wiesbaden 2005
Umfassende Buchbesprechung

Hypothesentest – am aktuellst möglichen Beispiel

(zoon politicon) Begriff, Aussage, Hypothese, Test. Das sind die vier Grundtermini der empirischen Forschung, auch der entsprechenden Politikforschung. Wissenschaftstheoretisch kann das zu zwei Bewertungen der Annahmen führen: die Verifizierung oder die Falsifizierung der Hypothese. Im ersten Fall gilt als empirisch bestätigt, und man kann unverändert mit ihr weiterarbeiten. Im zweiten Beispiel wurde sie wiederlegt, und man sollte sie modifizieren.

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Was damit gemeint ist, sei a heute aktuellst möglichen Beispiel aufgezeigt: Ich nehme die Entwicklung der Meinungsbildung vom Zeitpunkt der letzten Umfrage bis zum Abstimmungstag. Die Beispiele stammen aus der jüngsten Umfrage für die SRG SSR idée suisse Medien, die gfs.bern realisiert hatte, und den Abstimmungsergebnissen zu den Volksentscheidung vom 24. Februar 2008.

Dabei geht es um zwei verschiedene Formen der Meinungsbildung: den Meinungsaufbau bei unschlüssigen BürgerInnen mit Teilnahmeabsichten, und den Meinungswandel bei Menschen, die sich äussern wollen, eine anfängliche Entscheidungsabsicht haben, diese aber im Verlaufe des Prozesses der Meinungsbildung ändern.

Die Hypothesen wurde aus dem Dispositionsansatz abgeleitet. Sie sind für Volksinitiativen und Behördenvorlagen unterschiedlich:

Hypothesen zur Meinungsbildung bei Volksinitiativen kurz vor der Abstimmung
Bei Volksinitiative gehen wir davon aus, dass die Entscheidungen positiv prädisponiert sind, wenn Initiativen ein Bevölkerungsproblem aufnehmen, dass sich die Meinungsbildung aber negativ entwickelt, wenn sie die Kampagne vom Problem hin zur seiner Lösung und ihren Konsequenzen verlagert. Konkret erwarten wir, dass sich das Nein während des Abstimmungskampfes aufbaut, und sich das Ja maximal hält, meist sogar zurückgeht. Aus Unentschiedenen werden bei Volksinitiativen während der Schlussphase GegnerInnen.

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Die Grafik hierzu zeigt, dass sich die Erwartungen vollständig erfüllten. Der Nein-Anteil stieg von 55 auf 68 Prozent, der Ja-Anteil verringerte sich von 34 auf 32 Prozent. Der Anteil Unschlüssiger in der letzten Umfrage kann vollständig dem Nein-Lager zugerechnet werden.

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Die Hypothese wird also voll bestätigt, und zwar nicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch nach Sprachregionen.

Hypothesen zur Meinungsbildung bei Behördenvorlagen kurz vor der Abstimmung
Der erwartete Mechanismus bei Behördenvorlagen ist anders. Wir gehen hier nicht zwingend von einer positiven Prädisponierung bei Volksinitiativen aus. Behördenvorlagen kommen zur Abstimmung, auch wenn sie kein gravierende Probleme aus Bevölkerungssicht behandeln.
Vielmehr bildet sich die Meinungsbildung während des Abstimmungskampfes aufgrund der Kampagnen beider Seiten. In der Schlussphase gehen wir davon aus, dass die Nein-Seite mehr Unschlüssige anzieht, als die Ja-Seite; das Mass indem dies geschieht ist aber offen.

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Im konkreten Fall, der Unternehmenssteuerreform erhöhte sich der Ja-Aneil um knapp 5 Prozentpunkte, jener der Gegner um gut 18 Prozentpunkte. Die Erwartung, dass sich die Unschlüssigen in beide Richtungen verteilen wird auch hier erfüllt.

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Die Verifikation der Hypothese gelingt generell gut, nach Sprachregionen in zwei von drei Fällen. Einzig in der italienischsprachigen Schweiz beobachten wir ein anderes Phänomen. Der Ja-Anteil nimmt hier leicht ab. Das kann man als partielle Widerlegung interpretieren.

Die Falsifizierung führt hier aber nicht zu einer allgemeinen Modifikation der Hypothese, weil die Widerlegung nur eine Untergruppe betrifft. Sie wirft aber neue Fragen auf, die zu testen sind: Kann der Spezialfall in der italienischsprachigen Schweiz regelmässig nachgewiesen werden? – Dann müsste man annehmen, dass die Eigenheiten der Meinungsbildung im Tessin anderes als in der Schweiz verlaufen. Ist dies nicht der Fall? – Unter dieser Bedingung wird man folgern, dass es sich um eine Ungenauigkeit der Befragung handelt, die sich zum Beispiel aus der geringeren Befragtenzahl in der italienischsprachigen Schweiz ergibt.

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Alles in allem sind aber die Hypothesen zur Meinungsbildung bei Volksabstimmung in den letzten Wochen, die aus dem Dispositionsansatz abgeleitet werden können, ausgesprochen robust. Sie wurden hier etwas vereinfacht diskutiert, weil wir die Effekte durch die Mobilisierung nicht berücksichtigt haben. Das ist angesichts der geringen Verschiebungen vertretbar.

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Mehr noch: Die Hypothesen sind unterschiedlich, je nachdem ob es sich um einen Behördenvorlage oder eine Volksinitiative handelt. Das kann man nur aus dem Dispositionsansatz ableiten, weil er von unterschiedlichen Vorbestimmtheiten von Initiativen und Behördenvorlagen aufgrund der Problemdefinition ausgeht.

Und dann noch ganz zum Schluss: Sie entsprechen nicht unbedingt dem common sense, sondern der wissenschaftlich erschlossenen Realität. Diese ist, weil sie den Grad an Rationalität in der politisch-medialen Praxis erhöht, klar besser als die Meinungen über sie!

Claude Longchamp

Hochrechnungen von Volksabstimmungen und Wissenschaftstheorie

(zoon politicon) Gestern hat das Team von gfs.bern zum 48. Mal eine Hochrechnung zu eidgenössischen Volksabstimmungen durchgeführt. Der Erfolg lässt sich sehen:

. Um 1330 wurde das Ergebnis zur Kampfjetlärm-Initiative auf 8 Promille genau vorausgesagt, und
. um 1400 hielten wir das Resultat zur Unternehmenssteuerreform auf 5 Promille genau fest.

Letzteres war allerdings genau 50:50 für das Ja und das Nein, was einem Patt entsprach. Die Auflösung, ob wir eine Zustimmung oder Ablehnung erwarten, gelang 1520, als wir mit ungerundeten Zahlen von 50,4 Prozent ausgingen, was dann 1 Promille falsch war.

Hochrechnungen wie die gestrige basieren auf einer praktischen Umsetzung des des einfachen logischen Vorgehens, das seit 1948 als Hempel-Oppenheim-Schema in der Wissenschaftstheorie bekannt ist. Es unterscheidet

. die zu erklärende Variable (exemplandum),
. die erklärende Variable (exemplans) und
. einer Tatsache (Antezendens).

Die abhängige Variable ist jene, die wir prognostizieren wollen, also das Ergebnis der kommenden Volksabstimmung auf nationaler (Volksmehr) und kantonaler Ebene (Ständemehr). Die erklärende Variablen ist das Stimmverhalten (wiederum Volks- und Ständemehr) bei Vergleichsabstimmungen. Und die Tatsache sind die eintreffenden Gemeindeergebnisse.

Wir verwenden jedoch nicht alle Gemeinden, weil das zu wenig schnell wäre. Vielmehr setzen wir auf Gemeinden, die sich bei früheren Abstimmungen als repräsentativ für ihren Kanton erwiesen hatten.

Massgeblich ist es deshalb, die Referenzabstimmungen zu finden, die eine sinnvolle Gemeindeauswahl im Voraus erlaubt. Das ist gar nicht so einfach; es sind die folgenden Schritte nötig:

. Welche Annahmen zum ungefähren Abstimmungsausgang national lassen sich machen?
. Welches räumliche Konfliktmuster kann angenommen werden?
. Welche Abstimmungen in jüngerer Zeit erfüllen beide Erwartungen einigermassen gut?

Geleistet wird das mit statistischen Vergleichen. Im Idealfall gibt es eine Referenz, meist braucht es aber einen Mix aus mehreren. Die Entscheidung wird zirka 4 Wochen vor der Abstimmung getroffen, wenn der Abstimmungskampf begonnen hat, und wenn erste Umfragen zu den Entscheidungsabsichten und dem Konfliktmuster vorliegen. Die Gemeindeauswahl erfolgt danach.

Am Abstimmungstag selber treffen dann die Gemeindeergebnisse als unsere neue Tatsachen ein. Sie werden auf den Kanton hochgerechnet, das gibt das Ständemehr, wenn es nötig ist. Die Kantonshochrechnungen werden dann auf die nationale Ebene hochgerechnet. So sind alle Informationen zusammen, die es für die zu erklärende Variable im Hempel-Oppenheim-Schema braucht. Das ist dann das Ergebnis, das veröffentlicht wird.

Claude Longchamp

Lehrbuch der empirischen Politikforschung

(zoon politicon) Volker Dreier ist Privatdozent an der Universität Köln. Er arbeitet am dortigen Forschungsinstitut für Soziologie, und er ist Redaktor der renomierten Zeitschrift “Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie”. Vor allem aber hat Volker Dreier 1997 eine der wenigen, auf Deutsch erschienen, umfassenden Uebersichten über die Forschung in der empirisch ausgerichteten Politikwissenschaft verfasst.

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Volker Dreier, Soziologe mit Forschungsschwerpunkten, die mir durchaus zusagen, hat die massgebliche Einführung in die “Empirische Politikforschung” auf Deutsch verfasst, die soeben in der 2. Auflage erschienen ist.

Dreier versteht sich als unorthodoxer Vertreter der empirisch-analytischen Politikforschung. Diese leitet er aus der allgemeinen wissenschaftlichen Forschung ab, die sich dem wissenschaftlichen Realismus verpflichtet fühlt. Sinnliche Erfahrungen, logische Theoriebildung und empirische Ueberprüfungen sind für ein die massgeblichen wissenschaftstheoretischen Positionen.
Das Lehrbuch, strikte aufgebaut, sorgfältig geschrieben, mit Grafiken aufgearbeitet, sonst aber eher trocken, hat drei Teile:

. erstens, die Orientierungen der empirischen Politikforschung (mit der Begriffsbestimmung, den Grundfragen und den Grundelementen)
. zweitens, die wissenschaftstheoretischen Grundlagen (mit den formalen Grundlagen, den Begriffen und Aussagen, der logische Struktur einer empirischen Theorie, der Theoriekonstruktion, dem Erklären und/oder dem Verstehen)
. drittens, die Methoden und Modelle (mit dem Messen und der Sklaierung, den Modelle sowei den Abläufen in der Forschung)

In vielen Teilen des Buches gibt es, für sich gesehen, gleichwertige oder bessere Einzelabhandlungen. Was das Werk aber auszeichnet, ist der systematisch durchgehaltene überischtliche Stil über eigentlich alle Fragen, die sich dem/der empirischen PolitikforscherIn bei ihrer Arbeit und deren Kommunikation stellen.

Vielleicht, könnte man als einige Kritik anfügen, hätte man sich nach 586 Seiten noch ein Würdigung des Stand und der Entwicklung des Fachgebieten gewünscht.

Claude Longchamp

Vom Sinn der Tatsachen in der Wissenschaft

(zoon politicon) In der gestrigen Vorlesung “Empirische Politikforschung in der Praxis” stiessen wir kurz auf den Aufklärer David Hume. Er hat den Empirismus als Gegenposition zum Rationalismus von René Desacartes begründet. Dieser liess sich vom Mensch als vernunftbegabtes Wesen leiten, jener vom Mensch, der dank seiner Sinne die Welt erfahren kann. Bis heute sind beide erkenntnistheoretische Positionen, wenn auch in kritisch verarbeiteter und kombinierter Form bestandteil der Philosophie der Wissenschaften.

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Nachdenken über Thomas Huxleys prägnante Aussagen zum Sinn der Tatsachen in der Wissenschaft empfohlen

Per Zufall bin ich heute auf den britischen Agnostiker Thomas Huxley (1825-1895) gestossen, der im 19. Jahrhundert lebte. Nicht weil er der Grossvater des bekannten Aldous Huxley (Schöne, neue Welt 1932) war, behielt ich ihn im Auge. Vielmehr viel mir auf, dass er mit wenige Worten das wissenschaftliche Denken, das Hume (“gegen die Macht der Gewohnheit”) entwickelt hatte, prägnant zusammenfasste; drei Kernsätze seies deshalb hier zum Nachdenken über den Empirismus in den Natur- und Sozialwissenschaften festgehalten:

„Die größte Sünde gegen den menschlichen Geist ist, Dinge ohne Beweis zu glauben.“

„Jede neue Wahrheit beginnt ihren Weg als Ketzerei und beendet ihn als Orthodoxie.“

„Die Tragödie der Wissenschaft – das Erschlagen einer schönen Hypothese durch eine häßliche Tatsache.“

Schönes Wochenende (trotzdem)

Claude Longchamp

Kurzer Rückblick auf heute (I)

Der Stoff war wohl etwas viel. Ich werde mich beschränken. Klar zu kurz gekommen ist die Produktion und Diffusion von Wissen in der Wissensgesellschaft. Ich werde das an geeigneter Stelle nachholen.

Aus der heutige Präsentation und Diskussion zum Einstieg in die Veranstaltung “Empirische Politikwissenschaft in der Praxis” ziehe ich die folgenden inhaltlichen Schlüsse, die behalten werden sollten:

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Sir Raimund Popper, geistiger Vater des kritischen Rationalismus lehrt uns die Lebenseinstellung, wonach ich mich irren kann, du recht haben kannst, und wir gemeinsam uns auf die Suche nach Wahrheit machen sollten.
Quelle: http://blog.b92.net/arhiva/node/4960

1. Zum Selbstverständnis der Politikwissenschaft heute
. Der Politikbegriff in der Politikwissenschaft ist dreigeteilt: Er umfasst Strukturen, Prozesse und Inhalte.
. Die Grundbegriffe der Politikwissenschaft sind Ideologie, Norm, Macht und Kommunikation.
. Politische Theorien sollen dreierlei leisten: Tatsachenfestellungen ermöglichen, Prognosen erlauben, und Handlungsvorschläge entwickeln.
. Die Systemtheorie in der Form der Autoposesis ist die wichtigste übergeordnete Theorie der Sozialwissenschaften.
. Politik ist in dieser Perspektive das Teilsystem, das allgemeinverbindliche Entscheidungen trifft.
. Politikforschung untersucht in erster Linie das Handeln politischer Akteure, dessen Voraussetzungen und Wirkungen.

2. Wissenschaftstheoretische Voraussetzung der empirischen Forschung
. Die vorherrschende Wissenschaftstheorie der modernen emprischen Sozialwissenschaften ist der kritische Rationalismus.
. Theorien müssen auf expliziten Begriffen basieren und logisch konstruiert sein. Sie dienen der Verknüpfung von Gegenstandstheorien.
. Wissenschaftliche Gegenstandstheorien müssen empirisch geprüft sein.
. Die Deduktion oder Ableitung von Hypothesen aus der Theorie ist der Königsweg der Forschung, denn nur das garantiert Erklärung.
. Die Induktion oder Herleitung von Theorie aus gesicherten Beobachtung ist dann sinnvoll, wenn es keine Theorien gibt.
. Verifizierte Hypothesen stützen die Theorie, falsifizierte müssen zur Revision der Theorie führen.

3. Das Menschenbild in den sozialwissenschaftlichen Handlungstheorien

. Das Menschenbild in den verschiedenen Sozialwissenschaften ist sehr verschieden. Es gilt stets zu fragen, wie adäquat eine Theorie für die eigene Problemstellung ist.
. Oekonomische Handlungstheorien sind in politischen Analyse bei klar definierbarem Nutzen und wenig Restriktionen geeignet. Sie vermitteln jedoch kaum Annahmen zu kultur- und persönlichkeitsbezogenen Einflüssen auf das Handeln. Sie basieren auf eine idealisierten Informationsverständnis.
. Psychologische Handlungstheorien sind vor allem geeignet, den Zusammenhang zwischen Persönlichkeitsentwicklung und Handlungen aufzuzuzeigen.
. Soziologische Handlungstheorien eignen sich, um normative und kulturelle Einflüsse auf Handlungen zu untersuchen.
. Spezifisch politikwissenschaftliche Handlungstheorien gibt es kaum. Die Politikwissenschaft bedient sich in der Regel der Modelle anderer Disziplinen, meist in Verbindung von Oekonomie und (Sozial)Psychologie oder Soziologie.

Ich hole hier noch drei Gedanken zur Wissenschaft in der Wissenschaftsgesellschaft nach, die in den Unterlagen angelegt sind, aber nicht behandelt wurden:

4. Wissenschaft in der Wissensgesellschaft
. In der Wissensgesellschaft wird die Rolle der Universitäten in der Wissenproduktion durch andere Institutionen konkurrenziert, die angewandte Forschung und anwendbares Wissen herstellen und vermittelen.
. Angewandte Forschung will die politische Praxis durch die Erhöhung rationaler Entscheidungen verbessern. Sie leitet sich entweder aus der Grundlagenforschung her, oder wird durch die politische Praxis direkt aktiviert.
. In der Anwendungsforschung begegnen sich Wissenschaft und Politik am besten auf pragmatische Art und Weise zur Bestimmung geeigneter Ziele und Mittel. Häufig bestimmt jedoch die Politik die Ziele der Forschung und die angewandte Forschung optimiert die Mittel, die eingesetzt werden sollen. Selten ist das verhältnis umgekehrt und die Wissenschaft bestimmt die politischen Ziele.

Zum Schluss nochmals den Leitsatz der Veranstaltung insgesamt: Der Praxisbegriff ist doppelt: In der Grundlagenforschung meint man damit die Empirie, im Gegensatz zur Theorie, in der angewandten Forschung versteht man jedoch das Spannungsfeld zwischen wissenschaftlicher Lehre und praktischer Politik.

Ich freue mich auf die Fortsetzung. Wir sprechen dann über die Wahlforschung als Anwendungsfeld.

Claude Longchamp

Schlüsselwerke der Politikwissenschaft handlich aufgearbeitet

(zoon politicon) Da geht die Praxis der Theoretiker und der Praktiker weit auseinander: Muss man die Klassiker der Politikwissenschaft ausführlich gelesen haben, oder reicht es, wenn man die relevanten Zusammenfassungen kennt? Die Antworten stehen sich da diametral gegenüber: In der wissenschaftlichen Ausbildung sagt man: Ja, man muss sie in extenso gelesen haben. In der ausseruniversitären Praxis wird man Antworten: Unmöglich!

Ich gebe folgende Antwort: Im eigenen Arbeitsgebiet lohne es sich, die grossen Gedankengänge der relevanten Literatur einmal von A bis Z durcharbeitet zu haben. Und es ist sinnvoll, in einzelnen Forschungsgebieten die verzweigten Hinweise auf Neues selber aufgespürt zu haben.
Darüberhinaus mache ich mir nichts vor: Eine Uebersicht über die schnelle Entwicklung des Faches bekommt man so nicht. Doch das ist häufig essenziell. Gerade auch für Nicht-Fachleute.

Da bleibt nur der Griff zu Lexikas, um Begriffe sauber bestimmt zu bekommen, zu Handbüchern, um thematische Zusammenfassungen zu erhalten, oder eben zu diesem Buch:

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Steffen Kailitz: Schlüsselwerke der Politikwissenschaft. Wiesbaden 2007, 499 S.

In diesem Buch bekommt man rasche und knappe Antworten auf herausragende Werke der Politikwissenschaft, etwa zu Klaus von Beymes “Die parlamentarischen Regierungssysteme in Europa”, zu Walter Bagehots “The English Constitution” oder zu Max Webers “Wirtschaft und Gesellschaft”.

In diesem neuartigen Band werden 129 zentrale Werke der Politikwissenschaft handlich besprochen. Das ist verdankenswert, wenn man gezwungen ist, für eine Fragestellung, für ein Projekt oder für eine Vorlesung schnell abzuschätzen, was der Gehalt der Ergebnisse und Erkenntnisse ist.

Gerade dann, wenn man von einem Werk der Politikwissenschaft so angesprochen wird, steht es einem ja frei, bei geweckter Muse mal das ganze Buch zu lesen!

Claude Longchamp

Selbstverständlich bleiben zwei Werke zur Politikwissenschaft unverzichtbar:
Kurzfassung: Dieter Nohlen und Rainer-Olaf Schultze (Hrsg.): Lexikon der Politikwissenschaft. Theorien, Methoden, Begriffe (2 Bd.). München 2005 (3. Aufl.)
ausführliche Fassung: Dieter Nohlen (Hrsg.): Lexikon der Politik (7 Bde.), München 1995 ff.

Die online Kurzversion kann man hier nachschlagen:
PolitikWissen.de

Empirische Politikforschung in der Praxis (I)

(zoon politicon) Am Freitag startet meine Vorlesung in St. Gallen. Sie trägt den Titel “Empirische Politikwissenschaft in der Praxis“. Sie findet im Rahmen der Masterausbildung zu “International Affairs and Government” statt.

Die Vorlesung will in das Denken, Forschen und Handeln von PolitikwissenschafterInnen einführen, die im wachsenden Feld der angewandten Forschung tätig sind. Konkret will ich den Unterschied aufzeigen zwischen dem (theoretischen) Wissen, das die Politikwissenschaft hat, und dem (praktischem) Können, das man als Politikwissenschafter in der Praxis haben muss.

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Schema zur Strukturierung der Anwendungsfelder in der Vorlesung “Empirische Politikwissenschaft in der Praxis” (anclickbar)

Ich baue die Vorlesungsteile auf folgendem Schema auf: In der Wissenschaft teilt man die Tätigkeiten normalerweise zwischen Theorie und Empirie auf, also zwischen rein rationalen Ueberlegungen, was Sache ist, und den Erfahrungen, die man als Mensch mit der Sache macht. Das leistet empirische Forschung. In der Praxis ist diese Unterscheidung wichtig, weil sie hilft, ungeprüftes und geprüftes Wissen zu unterscheiden. Danach ist sie aber nicht mehr die massgebliche Differenzierung: Vielmehr gilt nun das geprüfte Wissen als Lehre, von der man durch die Anwendung zur Praxis kommt. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sie auf Probleme, die vorhanden sind, sinnvolle Antworten vorschlägt.

Politik basiert häufig nur auf der Kombination von Erfahrungen der PolitikerInnen einerseits, und der Praxis, die sie daraus ableiten. Forschung wird in Sachfragen beigezogen, nicht aber für die politische Arbeit selber. PolitikwissenschafterInnen in der Praxis wollen gerade das aufbrechen. Angewandte Politikforschung nun, die Lehren, die die Politikwissenschaft erarbeitet hat, mit dem Argument, die Rationalität von Entscheidungen prozessmässig zu erhöhen.

Aufbauend auf dieser These zur Vorlesung hat die Veranstaltung 6 Bestandteile:

1. Einleitung: Was ist empirische Politikforschung in der Praxis
2. Anwendungsfeld 1: Wahlen
3. Anwendungsfeld 2: Volksabstimmungen
4. Anwendungsfeld 3: Politische Kultur und Wertewandel
5. Gruppenarbeiten: Präsentation und Diskussion
6. Schlussfolgerungen

Jeder Vorlesungstag besteht aus je 4 Stunden Unterricht in Form einer Vorlesung resp. von Gruppendiskussionen.

Am ersten Freitag behandle ich die Einleitung abschliessend. Die Unterlage dazu kann hier abgerufen werden.

Ich freue mich auf die Veranstaltung, auf die aktive Teilnahme von StudentInnen, und bin auch offen für Anregungen, die via den Blog von Aussen kommen!

Claude Longchamp

SRG Hochrechnung zu eidgenössischen Volksabstimmungen

(zoon politicon) Die Hochrechnung für die SRG SSR idée suisse Medien ist eine typische Eigenentwicklung des Forschungsinstituts gfs.bern. Das Produkt wird seit 16 Jahren angeboten; aktuell wurde die bestehende Zusammenarbeit wieder verlängert.

Proben für die Hochrechung: die SF DRS Crew an einem frühen Abstimmungssonntag

Auf nationaler Ebene ist die Dienstleistung mit der denkwürdigen Volksabstimmung über den Beitritt der Schweiz zum EWR entstanden. Wichtigstes Ziel war es, die Bekanntgabe des verbindlichen, aber nicht offiziellen Abstimmungsergebnisses merklich zu beschleunigen. Das Produkt gefiel damals so gut, dass wir seither lückenlos an jedem gesamtschweizerischen Abstimmungstag eine Hochrechnung realisiert haben.

Basisinformation

Die Hochrechnung basiert auf einer ersten Extrapolation von realen Gemeindeergebnissen auf die Kantonsebene, und auf einer zweiten Extrapolation von den Kantonen auf den Bund.

Entscheidend ist dabei die Auswahl der Gemeinden. Sie werden so bestimmt, dass sie für ihren Kanton repräsentieren. Um Zufälligkeiten auszuschliessen, werden aber in der Regel nur Gemeinden von einer mittleren Grösse berücksichtigt, die garantieren, schnell ausgezählt zu haben. Im Schnitt kommen rund 80-100 Gemeinden pro Vorlage zum Zug, – je nach Thema jeweils andere.

Die Extrapolationen in zwei Stufen basierte von Anbeginn an auf mathematischen Modellen. Dagegen war die Bestimmung von Referenzabstimmungen anfänglich Intuition. Heute entsteht sie aufgrund statistischer Vergleichsmodelle. Letzteres ist unsere eigentliche kreative Leistung. Vermutlich verfügen nur wir über das Wissen, wie das am Sichersten geschieht.

Anders als im Ausland hat sich in der Schweiz die exit-poll Methode als Hochrechnungsbasis nicht durchgesetzt. Das hat zwei Gründe: Die Kosten sind höher, und die hohe Zahl der vorzeitig briefliche Stimmenden mindert den Wert von Befragung vor den Abstimmungslokalen.

Leistungen
Die Hochrechnung selber leistet zweierlei:

. Erstens, die schnelle Bestimmung des Volks-, und wenn nötig auch des Ständemehrs aus Gemeindedaten.
. Zweitens, aber auch eine Analyse des räumlichen Abstimmungsprofils hinsichtlich seiner polit-ökonomischen und polit-kulturellen Eigenheiten.

Ueber die Hochrechnung wird seit dem 6. Dezember 1992 in den SRG-Medien berichtet. Die Information setzt an Abstimmungen um 12 Uhr 30 ein, und sie endet meist um zirka 17 Uhr 30. Im Normalfall werden die hochgerechneten Ergebnisse alle 30 Minuten aufdatiert resp. zu Erstanalyse verarbeitet.

Auf Internet wird die Entwicklung der Ergebnisse dokumentiert. Die meisten Agenturen, privaten Radios der Schweiz und ausländischen Medien, die sich für die Schweiz interessieren, berichten darüber.

Genauigkeit
Unterschieden wird zwischen Trend- und Hochrechnungen. Trendrechnung lassen nur qualitative Aussagen (wird angenommen, wird abgelehnt, ist nicht entscheidbar) zu, während Hochrechnungen Angaben machen, in welchem Verhältnis das Ja und das Nein zueinander stehen. Um 14 Uhr muss eine Hochrechnung vorliegen, die bis am Schluss auf 2 Prozent genau bleibt. Im Schnitt weichen unsere Extrapolationen um 1 Prozent vom vorläufig amtlichen Endergebnis ab, das die Bundeskanzlei am Abend des Abstimmungstages kommuniziert.

Die Ironie der Geschichte: Die Hochrechnungen haben sich bei politische Interessierten innert kürzester Zeit durchgesetzt. Sie gelten heute als zuverlässige Referenz für den Abstimmungsausgang. Sie haben sich so auch vorteilhaft auf die Glaubwürdigkeit von Umfragen vor Abstimmungen ausgewirkt, obwohl sie selber gar kein demoskopisches Produkt sind!

Claude Longchamp

Live Bericht aus dem Hochrechnungszentrum in der Blogosphäre:
2.3.2007
17.6.2007