Empirische Politikforschung in der Praxis (III): Das Anwendungsfeld “Volksabstimmungen”

(zoon politicon) Volksabstimmungen sind ein konstitutiver Bestandteil des politischen Systems der Schweiz. Nirgends wo sonst auf der Welt wird so häufig über Sachfragen abgestimmt wie hierzulande. Für die Politikforschung ist das eine besondere Herausforderung: In keinem anderen Teilgebiet hat die Politikwissenschaft in der Schweiz einen so grossen Standortvorteil wie in diesem.

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Im Gegensatz zur weit entwickelten Wahlforschung befindet sich die sozialwissenschaftliche Abstimmungsforschung erst noch in den Anfängen; für die Politikwissenschaft der Schweiz ist das eine der grössten Herausforderungen.

Zum Forschungsstand in der Grundlagen- und Anwendungsforschung
Die empirische Forschung zum Abstimmungsverhalten der BürgerInnen begann dennoch eher zögerlich: Raumbezogene Datenanalysen standen am Anfang (50er und 60er Jahre), Untersuchungen auf Befragungsbasis folgten in den 70er Jahren. Die Grundlagenforschung beschränkte sich dabei weitgehend auf die Nachanalyse von Volksentscheidungen. Sie entwickelte damit, etwa im Bereich der VOX-Untersuchungen, Erklärungskompetenzen, jedoch kaum Prognosefähigkeiten.

Die praxisorientierte Politikforschung zu Volksabstimmungen hat einen hierzu komplementären Weg beschritten. Sie hat vor allem an ihrer Fähigkeit gearbeitet, den Abstimmungsausgang vorherzusehen. Sie kann das zwar nicht als Punktprognose machen, jedoch ist sie in der Lage, das aus dem Prozess der Meinungsbildung heraus zu leisten. Sie hat hierfür spezifische Untersuchungsdesigns vorgeschlagen, Methoden und Verfahren der Analyse entwickelt, und sie arbeitet seit einigen Jahren unter dem Stichwort “Dispositionsansatz” an konzeptionellen Erklärungen der erarbeiteten Befunde resp. auffindbaren Typen der Meinungsbildung.

Zielsetzungen des dritten Tages
Der dritte Tag der Veranstaltung “Empirische Politikforschung in der Praxis” widmet sich ganz dem Stand der Abstimmungsforschung in der Schweiz, mit einem Vergleich zum Ausland.

Im Gegensatz zum Vorgehen bei der Wahlforschung beschreiten wir, wie die Forschung auch, nicht den klassische deduktiven Weg von der Theorie über die Prognose hin zur Beobachtung und allfälligen Modifikation von Theorien. Vielmehr wählen wir das induktive Vorgehen: Wir starten mit Beobachtungen, verallgemeinern diese zu Aussagen, versuchen diese hypothetisch zu erklären und schauen, welche der so gemachten Annahmen bestätigt werden können resp. widerlegt werden.

Das führt uns zum gegenwärtigen Stand der Dinge, der durch den Dispositionsansatz am besten reflektiert wird. Diese soll in diesem Kursmodul exemplarisch vorgeführt werden, und es soll gezeigt werden, ob und wie er sich bewährt bei den jüngsten Volksabstimmungen in der Schweiz bewährt hat.

Mit einem Ausblick soll auch der Theorie-Ansatz, der davon unabhängig für die emprische issues-Analyse durch den amerikanischen Politikwissenschafter John Zaller entwickelt worden ist, vorgestellt und zur Erklärung im Rahmen des Dispositionsansatzes diskutiert werden.

Unterlagen
Die Unterlagen zu diesem Kurstag sind hier abrufbar.

Claude Longchamp

Die Evolution des Wissens durch Theoriebildung und Informationsgewinnung

(zoon politicon) Die Falsifikation oder Verifikation einer Hypothese ist das A und O der Theorie emprischer Wissenschaften nach Karl R. Popper. Denn so kann man Fehler in den theoretischen Annahmen entdecken und vermeiden, und sich so der Wahrheit annähern.

Der evolutionäre Prozess von Information-Theorie-Information
Aus verifizierten Hypthesen entsteht aber keine Theorie von selbst. Der Prozess der Entwicklung empirische gesättigter Theorien in der Wissenschaft ist komplexer. Der Soziologe Volker Dreier hat für die Evolution in der Theoriebildung und Informationsgewinnung in den Sozialwissenschaften ein sinnvolles, aber noch wenig gebräuchliches Schema vorgeschlagen.

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Die Operationen: Induktion, Konstruktion, Deduktion, Reduktion
Das Modell unterscheidet zunächst zwischen Theorie und Information, dann zwischen Hypothese und Prognose. Der klassisch deduktive Weg der Wissenschaften, die Deduktion oder Ableitung von Prognosen aus der Theorie setzt Beweistheorie vor aus. Es sind begrifflich, logisch und datenmässig geprüfte Aussagen zu einem Gegenstand. Der Weg hierzu setzt Hypothesen voraus, die sich bewährt haben und nicht mehr modifiziert werden müssen. Dreier nennt ihn Konstruktion. Die Herstellung von Theorien geschieht, indem Aussagen, die aus der Hypothese entstehen, miteinander verknüpft in eine grösseres Ganzes überführt werden, und das meist abstrakt, aber verbal beschrieben werden.

Der Kreislauf ist damit noch nicht geschlossen. Prognosen, die stimmen, führen zu neuen, relevante Informationen. Dreier nennt das die Reduktion. Geleistet wird das durch Bestätigungstheorien. Informationen wiederum stehen nicht nur am Ende des Kreislaufes, sondern am Anfang: Mittels Heuristik werden solche Informationen in Arbeitshypothesen umgewandelt, die anschliessen der oben beschriebenen Prüfung unterzogen werden.

Die theoretischen Schritte sind demnach

. die Heuristik in der Induktion,
. die Begründung in der Konstruktion
. der Beweis in der Deduktion und
. die Bestätigung in der Reduktion.

Dabei bleibt man stets im gleichen Wissenschaftsprogramm. Man entwickelt mit ihm Theorie, und man verwendet die Theorien für die Gewinnung relevanter Informationen, die ihrerseits zu verbesserten Theorie resp. präzisierten Informationen führen können.

Die Anwendung in meiner Vorlesung
Die Wahlforschung ist ein typisches Beispiel hierfür; sie gilt als eine der weitentwickeltsten Teilbereich der Sozialwissenschaften, weshalb man heute überwiegend deduktiv-reduktiv verfährt.
Die Abstimmungsforschung, die ungleich weniger entwickelt ist, verfährt noch überwiegend umgekehrt. Sie verfährt deshalb, wissenschaftstheoretisch gesprochen, induktiv-konstruktiv. Doch dazu nächste Woche mehr.

Geruhsames Wochenende!

Claude Longchamp

Die Weltuniversitäten für Sozialwissenschaften

Seit 2003 wird der Shanghai-Index publiziert, eine allgemeine Rangliste der Weltuniversitäten.

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Die soeben erschienen Version 2008 gibt nicht mehr nur hierzu eine Uebersicht, sondern untergliedert auch in 5 Fachrichtungen. Erstmals bekommt man so die besten Hochschulen der Welt zu sehen, die sich gegenwärtig in den Sozialwissenschaften ausgezeichnen. Für dieses Jahr sind das weltweit:

1. Harvard (1)
2. Chicago (9)
3. Columbia (7)
4. Stanford (2)
5. Berkeley (3)
6. MIT (5)
7. Princeton (8)
8. Pennsylvania (15)
9. Yale (11)
10. Ann Arbor (21)

Beschränkt man sich auf Europa, steht Cambridge an erster Stelle. Ueberhaupt, 7 der 10 Top-Plätze werden von britischen Universitäten eingenommen; die anderen drei sozialwissenschaftlich führenden Hochschulen kommen alles aus den Niederlanden. Hier die Liste für Europa:

1. Cambridge (world 18/4)
2. Oxford (world 23/10)
3. LSE (world 26/151)
4. Amsterdam (world 51/102)
5. London (world 51/25)
6. Manchester (world 51/48)
7. Warwick (world 51/203)
8. Erasmus (world 77/151)
9. Amsterdam (world 77/151)
10. London Business School (world 77/511)

Uebrigens: Keine Schweizer Universität wird in den Sozialwissenschaften als weltweit führend angesehen. Das ist notabene in allen 4 anderen Fachrichtungen, die im Shanghai-Index neuerdings unterschieden werden, anders!

Claude Longchamp

PS:
Jedes dieser Rankings hat seine Eigenheit aufgrund der Parameterwahl. Im Einzelnen resultieren damit andere Klassierungen; der Gesamteindruck bleibt sich aber weitgehend gleich: Times Higher Education Awards (2007).

Eine stärkere Unterscheidung nach Forschung und Lehre, jedoch nicht nach Fachrichtungen sortiert, nimmt das spanische “Webometrics Ranking of World Universities 2008“.

Sind wir Menschen alle ein RREEMM?

Vilfredo Pareto, der italienische Oekonom, der an der Universität Lausanne lehrte, prägte für 100 Jahren den Begriff des “homo oeconomicus”. Demnach ist der Mensch ein individualistisches Wesen, das vernünftig handelt, und, egal wer der Mensch ist und wo er lebt, nur an seinem eigenen Nutzen interessiert ist. Vor rund 50 Jahren konterte der deutsch-englische Soziologe Ralf Dahrendorf und sprach erstmals vom “homo sociologicus”. Er definitierte den Menschen als gesellschaftliches Wesen, das gegenüber anderen Menschen in Rollen handelt. Erwartungen, Sanktionen, Normen und Werte, die im Umfeld des Menschen entstehen, steuern sein Verhalten.

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Das sozialwissenschaftliche Menschenbild der Gegenwart entspricht dem homo generalis

Und wo steht man heute in der Debatte zwischen dem individualistischen resp. gesellschaftlichen Wesen Mensch? Der deutsche Sozialwissenschafter Siegwart M. Lindenberg, der in Harvard habilitiert hat, im niederländischen Groningen als Soziologe lehrt und Direktor der Interuniversitären Zentrums für sozialwissenschaftliche Theorie und Methodologie ist, kommt zu einer vermittelnden Antwort: Er bestimmt den Menschen als homo generalis, kurz auch als RREEMM. Die Buchstaben sind dabei Abkürzungen für, das in der Definition Lindenbergs entscheidend ist:

R: resourceful
R: restricted
E: evaluation
E: expecting
M: maximizing
M: (wo)man

Aehnlich, wie die rationale Entscheidungstheorie, die sich auf den homo oecomicus stützt, handelt der Mensch nach Lindenberg als individualistisches Wesen, das an der Vermehrung seiner Vorteile interessiert ist. Anders als die ökomische Deutung der rationalen Entscheidung definitiert Lindenberg die Voraussetzung dieses Handelns nicht aufgrund klarer Präferenzen und vollständiger Informationen, die im Handeln kollektiver Akteure Sinn machen, bezogen auf das Individuum aber eine zu starke Vereinfachung darstellen.

Vielmehr führt Lindenberg aufgrund seiner kognitiven Soziologie vier Randbedingungen der Entscheidungen ein: Menschen …
… sind in ihren Entscheidungen nicht frei, sondern unterliegen mannigfaltigen Einschränkungen (“restricted”)
… verfügen über Kompetenzen, die sie in ihren Entscheidungen zu mobilisieren wissen (“ressorceful”)
… handeln nicht aufgrund den Begebenheiten, die sich kennen oder auch annehmen (“expecting”)
… und entscheiden sich, aufgrund ihrer Ziele, für jene Handlungsmöglichkeit, die ihnen am meisten Vorteile verspricht (“evaluating”).

Das Modell ist nicht die einzige Innovation in den sozialwissenschaftlichsten Handlungstheorien der Gegenwart, wohl aber eine der vielversprechendsten. Es ist nicht mehr so elegant und simpel wie die Modelle, die der amerikanische Oekonom Antony Downs in die Entscheidungstheorien eingebracht hat. Aber es ist auch einfacher und verständlicher, als die Diagnosen, welche die früheren Soziologen erstellt haben.

Was heisst das? Die Erwartung, dass sich die Wissenschaft vermehrt für das Handlungsmodell des homo generalis entscheidet, denn die Erwartungen des homo oeconomicus resp. des homo sociologicus haben sich nicht voll erfüllt. Sie sollten sich deshalb von den Restriktionen der Wissenschaftsgeschichte der letzten 100 Jahre befreien, und auf ihre innovative Kraft vertrauen, indem sie vorhandene Weiterentwicklung in ihren Entscheidungen nutzen.

Denn so würde auch sie als generalisierte Menschen handeln!

Claude Longchamp

Weiterführende Lektüre:
Bruno S. Frey: Ökonomie ist Sozialwissenschaft. Die Anwendung der Ökonomie auf neue Gebiete. München 1990.
Hartmut Esser: Soziologie – Allgemeine Grundlagen. 3. Auflage, Frankfurt/New York 1999.

Kurzer Rückblick auf heute (II)

(zoon politicon) Wahlentscheidungen, die wir heute im Kurs “Empirische Politikforschung in der Praxis” behandelt haben, sind sozialwissenschaftlich gut untersucht. Sie haben, mit dem Wahlergebnis, das man erklären will, eine objektive und quantifizierte Grösse als Ausgangspunkt. Sie kommen in allen allen Demokratie vor, und sie folgen sich zeitlich in regelmässigen Abständen. Das sind fast schon ideale Voraussetzungen für empirische Forschung. Hinzu kommt, dass es sich um ein Forschungsfeld handelt, indem sich Grundlagen- und Anwendungsforschung seit langem bewegen und sich auch gegenseitig befruchtet haben. Wahlforschung ist heute nicht nur eine der entickeltesten Teilgebiete der Politikwissenschaft. Sie hilft auch, relevante Tatsachen zu identifizieren, sie bietet Erklärungen hierfür an, sie erlaubt Prognosen, und sie gibt auch Handlungshinweise für ein rationaleres Verhalten politischer Akteure.


Mein Arbeitsplatz nach den letzten Parlamentswahlen im TV-Studio Leutschenbach, wo ich als Wahlanalytiker für die SRG SSR idée suisse tätig war

1. Theorien des Wählens
Die relevante Theoriediskussion ist auf Deutsch im Handbuch Wahlforschung weitgehend dargestellt worden. Auf der theoretischen Ebene werden vier Ansätze unterschieden:
. Wahlgeografische Erklärungen aufgrund der räumlichen Bedingungen, die Religion, Sozialstruktur und politische Tradition formen und so vor allem in Agrargesellschaften politische Entscheidungen bei Wahlen determinieren;
. wahlsoziologische Erklärungen, wobei politische Parteien das konfliktreiche Verhalten von BürgerInnen regeln, indem sie ihre Werthaltungen, Interessen und Gruppenzugehörigkeiten während Wahlkämpfen repolitisieren;
. wahlpsychologische Erklärungen, für die Einstellungen der BürgerInnen wie die mittelfristige Parteiidentifikation, die Kandidaten- und Themenorientierungen, die während des Wahlkampfes entstehen, die Wahlentscheidungen bestimmen;
. und wahlökonomische Erlärungen, die BürgerInnen als rationale Nutzenmaximierer sehen, die bei Wahlen auf dieser Basis namentlich eine ökonomische Evaluierung der Regierungsarbeit vornehmen.
Nach Ansicht verschiedener führender Wahlforscher zeichnet sich heute immer mehr ab, dass wahlgeografische und wahlsoziologische Theorien zu komplex angelegt sind und die Erklärung der Wahlentscheidung zu weit hergeholt suchen. Diese findet nach Auffassung von Politikwissenschaftern wie Jürgen Falter weitgehend im Menschen selber statt und könnte mit einer Synthese von ökonomischen und psychologischen Theorien noch verbessert untersucht resp. erklärt werden.

2. Empirie (bezogen auf die Schweiz)
. Seit 1995 testet die akademische Wahlforschung in der Schweiz sozialwissenschaftliche Theorien, um das hiesige Wahlverhalten zu erklären. Sie kommt dabei zum Schluss, dass es am sinnvollsten ist, sozialpsychologische Ansätze, angereichert durch ökonomische Erklärungen einzusetzen. Das aktuelle Wahlverhalten ergibt sich demnach durch die bisherige Wahl, die mittelfristige Parteiidentifikation und die Position auf der Links/Rechts-Achse, erweitert um die Themenidentifikationen der Wählenden.
. Die angewandte Wahlforschung wurde ihrerseits 1999 neu begründet. Sie versucht, sowohl nachfrage- wie auch angebotsseitig Wahlverhalten zu erklären. Die Parteien werden nicht als fixe Grössen gesehen, sondern aufgrund ihrer Kampagnenfähigkeit als variable, die sich in unterschiedlich intensivem und geeignetem Masse an die Wählerschaft wenden. Diese wiederum identifiziert sich mit Parteien aufgrund eines für das Zielpublikum adäquat geführten Wahlkampfes, aufgrund der medialisierten Personen, welche die Partei repräsentieren und aufgrund von Werthaltungen resp. politischen Positionen in Grundsatzfragen.

3. Praxis (in der Schweiz)
In der Praxis geht es allerdings weit weniger um die Bildung von Erklärungsmodellen, denn um die Prognosefähigkeit der Wahlforschung. Dabei kommen immer mehr verschiedene Instrumente zum Einsatz, wie Wahlumfragen, Wahlbörsen, und ökonometrische Modelle. Bisher arbeiten kein Instrument ganz fehlerfrei. Die Güte der Prognosen kann aber verglichen werden. Anders als im Ausland schneiden dabei Wahlumfragen in der Schweiz neuerdings am besten ab. Wahlbörsen erweisen sich als etwas weniger genau, und sie haben vor allem keinen Erklärungswert. Extrapolationen von kantonalen Wahlen sind ebenfalls etwas weniger genau, vor allem weil sie die vermehrte Nationalisierung der Wahlkämpfe nicht reflektieren.

Meine Bilanz
Die Wahlforschung entwickelte sich rasch. Ihre Anfänge in der Schweiz gehen auf die 70er Jahre zurück. Die rasanten Veränderungen der Parteistärken bei Nationalratswahlen seit 1995 haben sowohl die Grundlagen- wie auch die Anwendungsforschung stimuliert. Die Erkenntnisfortschritte sind rasch gewachsen. Die Prognosefähigkeit hat generell zugenommen. Die Erklärungskraft der verwendeten Ansätze sind noch etwas uneinheitlich, es zeichnet sich aber hierzulande ein sozialpsychologischer mainstream ab, erweitert um ökonomische Erklärungen oder um kommunikationswissenschaftliche.
Die Wahlforschung ist generell wie auch in der Schweiz einer jener Zweige in der Politikwissenschaften, die durch eine evolutionäre Wissensvermehrung ausgehend von der Wissenschaft, aber auch übergreifend auf die Praxis gekennzeichnet sind.

Claude Longchamp

Empirische Politikforschung in der Praxis (II): das Anwendungsfeld “Wahlen”

(zoon politicon) In unserer Vorlesung “Empirische Politikforschung in der Praxis” steht das erste Anwendungsfeld an. Es handelt sich um Wahlen. Sie werden, wie angekündigt, unter drei Aspekten behandelt:

. den Theorien der Wahlforschung
. ausgewählten empirischen Ergebnisse hierzu
. und praxisrelevanten Themen der Wahlforschung.

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Szenen aus dem amerikanischen Wahlkampf 2008: “Who wins?” ist auch die zentrale Frage der empirischen Wahlforschung in Theorie und Praxis.

Das ganze wird auf die Frage der Prognosefähigkeit von Wahlen zugespitzt: Einerseits gehen wir der sehr praktischen Frage nach, war 2007 in der Schweiz die besten Wahlprognosen lieferte (Wahlbefragungen, Wahlbörsen, oder politökonomische Modelle). Anderseits fragen wir, welche Ansätze aus der Wahltheorie die besten Erklärungsansätze anbieten.

Wir behandeln Ergebnisse aus dem Studienreihen “Selects” und “Wahlbarometer”, und wir kombinieren sie mit Medieninhaltsanalysen zu Trend im gekauften und redaktionellen Raum während des jüngsten Wahlkampfes.

Ich verspreche nicht zu viel: Der eine oder andere Primeur aus der aktuellen Wahlforschung ist schon drin.

Am Schluss der Veranstaltung fragen wir uns, wie Theorie und Praxis in der Wahlforschung zusammenhängen, und wie, auf der Basis des kritischen Rationalismus, weitere Erkenntnisfortschritte möglich sind. Denn daran sind TheoretikerInnen wie PraktikerInnen interessiert!

Hier schon mal die neuen Unterlagen!

Claude Longchamp

smartvote hat den Wahlkampf 2007 neu aufgemischt

(zoon politicon) Für mich heisst der Wahlsieger 2007 “smartvote!”, die populär gewordene elektronische Wahlhilfe.

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Gepflegt ist die homepage von smartvote. Dezent sind die Farben, die im einfachen stiling auf einen wirken. Das macht den ganze Internetauftritt von smartvote fast schon elegant.

Klug war auch das Marketing. Den feschen und wenigen feschen Kandidierenden boten sie eine Plattform zu Eigenprofilierung. Den Wählenden offerierte man die Möglichkeit, ihr eigenes, politisches Spinnennetz zu erstellen, und so sich selber und die ihnen am nächsten stehenden KandidatInnen zu erkennen.

Listig haben die smartvotler damit die ganze politische Bürgerschaft dokumentiert. Fast eine Million Wahlberechtigte sollen sich so freiwillig registriert haben. Und für 187 den 200 Gewählten im Nationalrat gibt es jetzt ein einmaliges politische Nachschlagewerk. Das wird keiner pfiffigen und keinem pfiffigen Journalisten entgehen: Die nächsten vier Jahre wird wie noch nie kontrolliert werden, ob vor der Wahl auch nach der Wahl ist.

Clever hat die eigentliche Innovation dieses Wahlkampfes bewiesen, dass nicht einfach Föteli der BewerberInnen gefragt sind. Dass Personen nicht nur Emotionen transportieren, wie die Headlines der Medien suggieren. Nein, dass es auch 2007 ein eigentliches Bedürfnis gegeben hat, sich mit politischen Themen und Positionen der Parteien und KandidatInnen auseinander zu setzen.

Schlau, seit ihr, ihr Wahlsieger! Sogar ich bin euch beim Wahlentscheid halb gefolgt.

Claude Longchamp

Ein spannendes Experiment zur Wahlberichterstattung in der Wissensgesellschaft

(zoon politicon) Nur der Beste soll herrschen, meinte Platon. Doch Aristoteles widersprach ihm: Die Menge kann nicht irren! Beide Philosophien hallen bis heute in der politischen Berichterstattung nach: Platon legitimiert ExpertInnen, Aristoteles Internetservices wie “wikipedia”.

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Das Experiment
2007 habe ich, als Experte, an einem Experiment im online-Lexikon “wikipedia” teilgenommen. Anonym habe ich am Artikel “Schweizer Parlamentswahlen 2007” mitgeschrieben. Fleissigster Initiant ist Lirum Larum, von dem ich bis heute nicht weiss, wer er ist. Die Autorenliste zeigt aber, das im Wahljahr mehrere Dutzend Personen mitgeschrieben haben.

Betrachtet man das Endergebnis, kann man ausgesprochen zufrieden sein. Entstanden ist ein ausführlicher, informativer und neutraler Artikel zu den jüngsten Parlamentswahlen. Bezogen auf die Nationalratswahlen wird Vieles zusammengefasst, das sonst auf Internet greifbar ist. Besonders wertvoll ist aber die einheitlich durchgezogene, interkantonale Aufarbeitung der Ständeratswahlen 2007, die es in so handlicher Form sonst nirgends gibt.

Mein persönliches Fazit
Mein persönliches Fazit: Es war spannend, sich jeden Tag zu fragen, was von dem, das passiert, ist bemerkenswert, und wie kann man das in geraffter Form, ohne Wertung und allgemein verständlich formulieren. Wenn mal was daneben ging – und das gabs!- entzündete sich bald eine Kontroverses auf der Diskussionsseite, und es wurden ganze Passagen geändert und gestrichen. Der grösste Dissens entzündete sich ohne Zweifel an der SVP-Demonstration vom 6. Oktober 2007. Beides ist wohl wikipedia-inhärent.

Die Menge hatte recht und war schnell!
Der Aritikel ist nach den Wahlen noch um einiges gestrafft und bereinigt worden. Heute verfügen wir,

. dank der Menge von Beobachtungen, die von verschiedenen Leute unabhängig gemacht wurde,
. dank dem Willen das festzuhalten und sich damit auch instant der Kritik auszusetzen, und
. dank den nachträglichen Bemühungen, einen fehlerfreien und gut verlinkten Artikel daraus zu machen,

über einen der nützlichsten Artikel zu den jüngsten Parlamentswahlen in der Schweiz. Für mich eines der spannendsten Experiment, Wissen zu produzieren, das vor dem Entstehen der Wissensgesellschaft undenkbar gewesen wäre.
Wünschenswert wäre nun, das Experiment global weiter zu denken, und die Sprachversionen auf wikipedia dem höchsten Wissensstand (für einmal auf Deutsch) anzupassen!

Claude Longchamp

“Wahlbarometer” – die praktische Wahlforschung in der Schweiz

(zoon politicon) “Wahlbarometer” ist gleichzeitig ein Projektname und ein Programm: Es handelt sich um das Informationssystem der SRG SSR idée suisse Medien, das im Jahr vor den eidgenössischen Wahlen aufgezogen wird. Und es bedeutet, dass man nicht ein-, sondern mehrmalige Messung vornimmt, um die politische Temperatur des Landes fortgesetzt zu messen.

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Ziel des Projektes ist es, die Entwicklung der Parteistärken in den letzten 12 Monaten vor dem Wahltag zuverlässig zu ermitteln. Hierfür wurden 2006/2007 9 vor- und eine Nachbefragung zu den Wahlabsichten gemacht. Anders als alle anderen Wahlbefragungen in der Schweiz, beschränkt sich das Wahlbarometer aber nicht nur auf Beteiligungs- und Parteiwahlabsichten bei Nationalratswahlen.

Das Konzept der letzten drei Wahlbarometer-Serien hat das Forschungsinstitut gfs.bern entwickelt. Das Set, das 2007 angewendet wurde, unterschied im Gefolge soziologischer, sozialpsychologischer, ökonomischer und kommunikationswissenschaftlicher Theorien Erklärungsansätze auf Seiten der Angebote der Parteien wie auch der Nachfrage durch die Wählenden:

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Angebot
. die Identifikation mit der Kampagne der Parteien
. die Identifikation mit BundesrätInnen/ParteipräsidentInnen der Parteien
. die Identifikation mit den thematischen Positionen der Parteien in den Sachfragen, die am meisten interessieren

Nachfrage
. Position der Wählenden auf der Links/Rechts-Achse
. Position der Wählenden in zentralen Wertfragen
. soziologische Merkmale der Wählenden

Für jede der Befragungen, die mit einem einheitlichen Fragebogen vor den Wahlen realisiert wurden, interviewte der gfs-Befragungsdienst mindestens 2000 repräsentativ ausgewählte, wahlberechtigte Personen im Inland.

Berichtet wurde im unmittelbaren Nachgang zu den Befragung in allen Medien der SRG SSR idée suisse. “Schweizer Fernsehen” etablierte zu den News-Gefässen eine eigene “Wahlbarometer”-Sendung. Der Schlussbericht erschien 4 Tage nach der Wahl. In den Printmedien der Schweiz wurden die Ergebnisse aus den Wahlbarometer ausführlich zitiert. Das Forschungsinstitut gfs.bern erstellte eine allgemein zugängliche, ausführliche Ergebnisdatenbank, die via Internet abrufbar ist.

Das “Wahlbarometer” erwies sich im Vergleich zu den effektiven Wahlergebnissen bei den letzten gemessenen Parteistärken als das genaueste Beobachtungssystem überhaupt. Die sechs wichtigsten Aussagen zu Entwicklungen in den Parteistärken und der Wahlbeteiligung stimmten qualitativ alle; die numerische Abweichung bei den Parteistärken betrug im Mittel 1,1 Prozent. Damit war das “Wahlbarometer” auch präziser als die Wahlbörsen und die Prognosen aufgrund kantonaler Wahlergebnisse. Im europäischen Vergleich schnitten alle Wahlumfragen in der Schweiz vergleichsweise gut ab, obwohl in den 10 Tage vor der Wahl nichts Neues mehr veröffentlicht werden darf.

Die theoriefähigen Ergebnisse aus dem Wahlbarometer werden in meinem Kurs “Empirische Politikforschung in der Schweiz” an der Universität St. Gallen vertieft behandelt.

Claude Longchamp

“Selects”- die akademische Wahlforschung in der Schweiz

(zoon politicon) “Selects” heisst die Studienreihe zur akademischen Wahlforschung in der Schweiz. Den Namen kann man auf zwei Arten deuten: als “Swiss Electoral Studies” und als “Auswahl” aus der Wahlforschung in der Schweiz. Beides ist wohl richtig.

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Ziel des Projektes “Selects” ist es, die Wahlforschung in der Schweiz zu professionalisieren, weiterzuentwickeln und zu institutionalisieren, um den Rückstand gegenüber der internationalen Wahlforschung aufzuarbeiten, den sich die Schweiz aufgrund ihrer eher direktdemokratischen Ausrichtung eingehandelt hat.

Ins Leben gerufen wurde Selects mit Blick auf die Parlamentswahlen von 1995. Seither sind drei eidgenössische Wahlen untersucht worden. Hinzu kommen einige Dissertationen, Spezialstudien und Fachartikel, die mit dem Material von Selects (Bevölkerungsbefragung, Interview mit Kampagnenakteure, Medienanalysen) entstanden sind.

Heute ist die Studienreihe ins Institut für empirische Sozialforschung der Universität Lausanne, kurz FORS, integriert. Die Datensätze sind via SIDOS abrufbar. Geleitet wird das Projekt seit anfangs 2008 vom Politikwissenschafter Georg Lutz.

Das Forschungsprojekt Selects wird von der Bundeskanzlei, der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften SAGW und dem Schweizerischen Nationalfonds SNF unterstützt.

Die Ergebnisse von resp. bis 2003 sind sowohl von den akademisch geschulten ForscherInnen als auch vom Bundesamt für Statistik analysiert und beschrieben worden. Das macht die Studienreihe als Nachschlagewerk ganz nützlich.

Die Vermittlung über das speziell interessierte universitäre Fachpublikum hinaus ist aber noch nicht geglückt. Die Präsentation der wissenschaftlichen Studienergebnisse von 2003 mit speziellen Regressionsanalysen blieb weitgehend unverstanden, und die Zuspitzung 2007 auf das Thema, Frauen würden sich für Politik immer wengier interessieren, war bei Wahlforschern heftig umstritten.

Die eigentliche Wahlstudie zu den Parlamentswahlen 2007 liegt noch nicht vor. Auch deshalb bleibt der vorläufige Eindruck, dass mit “Selects” die Schweizer Wahlen aus der akademisch-selektiven Position untersucht werden.

Claude Longchamp

Publikationsliste Selects
Daten Selects