Neues zu Volksabstimmungen in Schweizer Gemeinden

«Direkte Demokratie in den Gemeinden»: welch gross(artig)es Thema für politikwissenschaftliche Forschungen! Es geht um das Land des Weltmeisters in Sachen Volksabstimmungen einerseits, und um ein Thema mit einer augenscheinlichen Forschungslücke in der Schweiz anderseits.

Martina Flick-Witzig und Adrian Vatter hat das so stark fasziniert, dass sie trotz äusserst schwieriger Datenbeschaffung über Jahre hinweg dranblieben. Was dabei herausgekommen ist, berichten die Autor:innen gut belegt und reich illustriert nun zwischen zwei Buchdeckeln, die der NZZ Libro Verlag vertreibt.
Vielleicht wäre es trotz des offensichtlichen Enthusiasmus treffender gewesen, das Werk «Die Volksabstimmungen in den Schweizer Gemeinden» zu nennen. Da füllt das Buch die angesprochene Lücke. Doch bleibt sie bestehen, wo es um eine breite Uebersicht über Gemeindeversammlungen geht, die vielerorts als eigentlicher Kern der direkten Demokratie auf kommunaler Ebene gilt.

Zentrale Befunde
Datenbasis des Projektes und Buches bildet die erstmalige Vollerhebung zu Verfahren und Gebrauch von Volksabstimmungen in allen Schweizer Grossstädten (mit über 50000 Einwohner:nnen) und ausgewählter Gemeinden aus allen 26 Kantonen. Eingebettet wird dies in die Ergebnisse der wissenschaftlichen Literatur auf internationaler und subnationaler Ebene.
Einige der zentralen Erkenntnisse lauten:
Erstens: Kommunale Volksrechte sind in allen Landesteilen verbreitet. Doch werden sie sehr unterschiedlich genutzt. Am häufigsten zur Anwendung kommen sie in den grösseren Städten der deutschsprachigen Schweiz.
Zweitens: Die Hürden zur Einreichung von Referenden und Initiativen sind vergleichsweise hoch. Die Quoren auf kommunaler Ebene reichen im Extremfall bis zu 20 Prozent der Stimmberechtigten. Das ist einiges mehr als in den Kantonen und vor allem im Bund.
Drittens: Eigentlich nur in den grösseren Städten der deutschsprachigen Schweiz finden regelmässig Volksabstimmungen statt. Das gibt es auch am meisten Volksinitiativen, während namentlich die Referenden in den Gemeinden durch hohe Eintrittsschwellen bei Unterschriftenzahlen und Fristen gering gehalten werden.
Schliesslich viertens: Die Höhe der kommunalen Stimmbeteiligung hängt heute von der Kombination mit eidg. Vorlagen ab. Diese mobilisieren stärker und ziehen mehr Bürger:innen bei lokalen Abstimmungen mit. Ohne diese Lokomotive sacken die kommunalen Beteiligungsquoten meist deutlich ab.

Erhellende Vertiefung zu kommunalen Volksinitiativen
Innovativ ist das neue politologische Werk meines Erachtens namentlich entlang den Ausführungen zu Volksinitiativen auf kommunaler Ebene. Denn da werden bis zu 40 Prozent der Vorlagen angenommen. Der Vergleichswert in den Kantonen liegt bei einem Viertel, auf Bundesebene gar nur etwas über 10 Prozent.
Dazu bieten die Autor:innen verschiedene Erklärungsansätze an:
Zunächst ist da der urbane Kontext: Eigenheiten der grossen Städte wirken sich begünstigend auf den Ausgang von Volksinitiativen aus: moderne Räume mit entsprechenden Probleme, häufig rotgrünen Regierungsmehrheiten und entsprechender politische Grundstimmungen befördern die Annahmewahrscheinlichkeit von Volksinitiativen.
Dann sind es Besonderheiten der städtischen Volksinitiativen: Häufige Themen sind da die interkommunale Zusammenarbeit, das Gesundheitswesen und die öffentliche Sicherheit. Sie kennen überdurchschnittliche Ja-Stimmenanteile. Und nicht selten dominiert da auch die amtliche Information.
Ferner kommt die Intensität städtischer Abstimmungen hinzu: Erwogen wird, dass sich die höhere Vorlagenzahl auf die Erfolgsquote auswirkt. Dann ist vermehrt mit Heuristiken zu rechnen, die jenseits der Auseinandersetzung mit einer einzelnen Vorlage seitens der Stimmenden angewandt werden. Wo das politische Vertrauen generell vorhanden ist, begünstigte das Ja-Ja-Ja Antworten und damit auch die Zustimmungsquoten.
Schliesslich wirken die hohen Hürden: Sie trennen frühzeitig die Spreu vom Weizen. Was zur Abstimmung kommt, ist durch den Vorprozess besser qualifiziert worden. Damit scheiden aussichtslose Projekt schon im Sammelstadium eher aus – oder werden gar nicht lanciert.

Eine alternative Erklärung
Natürlich beginnen genau bei diesem Fazit die interessanten Nachfragen. Denn die Abstimmungskämpfe in auf Bundes- und Gemeindeebene unterscheiden sich markant.
Dort die professionalisierte politische Kommunikation mit langen Abstimmungskämpfen, häufig stark kommerzialisiert und darauf angerichtet, Zweifel an der Vorlage zu säen. Da die meist kurzen Abstimmungskämpfe, nahe bei den Initianten und ihren unmittelbaren Widersachern, sodass sich alles um konkrete erkennbare Projekte mit geringerer Komplexität dreht, von denen man auch ohne Kampagnen eine Ahnung haben kann.
Denkbar wäre meines Erachtens die nicht diskutierte Erklärung, wonach die etablierten Kräfte auf Bundesebene insgesamt gelernt haben, mit den Herausforderungen seitens von Volksinitiativen zu leben, sodass sich die Abstimmungserfolge auf wenige Vorlagen konzentrieren mit hohem Problemdruck (Pflegeinitiative) oder hoher symbolischer Bedeutung (Burka-Verbot).
Demgegenüber wären Volksinitiativen auf der kommunalen Ebene ein normaler Bestandteil des urbanen politischen Prozesses, der deshalb auch weniger polarisiert und auch weniger mobilisiert, was die Erfolgswahrscheinlichkeiten von Bürger:innen-Anliegen erhöht.

Fazit
Das Buch ist gelungen! Nach dessen Lektüre weiss man mehr über Volksabstimmungen in den Schweizer Kommunen. Man kennt die Verbreitung und Nutzung der Instrumente in allen Landesteilen besser, und man kann die Chancen von Volksentscheidungen treffender einschätzen.
Wünschenswert wäre gerade auch deshalb ein zweiter, ebenso aufwendig gemachter Band zu Gemeindeversammlungen mit Schwerpunkt bei den kleinen und mittleren Gemeinden als der «anderen Form» der angesprochenen direkten Demokratie auf kommunaler Ebene.

Claude Longchamp

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