Frischgebloggt: Stabilisierung der Parteienlandschaft, neu mit liberalerem Akzent

Heute ist das SRG-Wahlbarometer, erstellt von sotomo, erschienen. Es geht von Gewinnen für FDP und GLP und von Verlusten für die GPS aus. Der Rest ist mehr oder weniger stabil. Ist das plausibel und wenn ja, was sind die Gründe dafür?

Man erinnert sich: 2019 waren die Veränderungen bei den eidg. Wahlen ausserordentlich. Die Grünen und die Grünliberalen legten zu, die vier Regierungsparteien büssten allesamt Stimmen ein.
Die Erfahrung mit Wahlen in der Schweiz lehrt: Auf eine volatile Wahl wie 2019 folgt mindestens eine Wahl, bei der sich weniger ändert und die Verhältnisse wieder stabil werden.


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Einmütige Befunde der Umfragen
Zwischenzeitlich liegen zwei Umfragen vor, die sich mit den Wahlabsichten bei den Nationalratswahlen 2023 beschäftigen. Beide sind keine Prognosen, aber Bestandesaufnahmen im Herbst 2022.
Stellt man auf die gerundeten Parteistärken ab, sagen die Erhebungen von sotomo (für die SRG) und LeeWas (für Tamedia) genau das Gleiche: Die Reihenfolge der Parteien bleibt konstant (wenn man die fusionierte Mitte statt der CVP und der BDP als Massstab nimmt). Konkret heisst das für die Wählendenstärken.

26% SVP
16% SP
16% FDP
13% Mitte
12% GPS
9% GLP
2% EVP

Mensch kann von einem minimalen Rutsch nach rechts ausgehen, wobei effektive Gewinnaussichten die FDP und die GLP haben, während sich die Grünen auf Verluste einstellen sollten.

Unterschied zwischen nationalen und kantonalen Vergleichen
Enttäuscht dürften vor allem die Grünen sein. Sie haben bei den kantonalen Wahlen stark zugelegt, genauso wie die Grünliberale. Doch sind sie 2019 deutlich stärker gewachsen als diese.
Geht man die damaligen Analysen unaufgeregt nochmals durch, waren 3-4 Prozentpunkte erwartbar. 2-3 Prozent dürften kürzestfristig aus dem Umständen mit Klimawahl und Mobilisierungseffekten entstanden sein. Genau das unter veränderten Umständen und ohne Wahlkampf zu wiederholen ist fast unmöglich.
Insofern sagen die Umfragen, dass sich die Grünen auf einem neuen Niveau stabilisieren, aber nicht mehr wachsen. Die Wahlgewinne in den Kantonen (bis 2021) sind ein Echoeffekt auf das nationale Wahljahr denn eine Trendfortsetzung.
Das bestätigt meine Klassierung der Parteistärken, die ich letzte Woche publiziert (und nun aufdatiert habe). Dabei sind Umfragen ein Element. Weitere sind die Wahlergebnisse 2019 sowie die Sitze national und kantonal). Alle Indikatoren werden kombiniert, um Eigenheiten eines einzelnen Tools auszugleichen.


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Pendelbewegungen zur Polarisierung
Die aktuelle Umfrage hilft an anderer Stelle weiter: Die individuellen Wanderungen von der SP zu den Grünen haben demnach verschiedenste Ursachen. Umgekehrt gilt , dass das es wegen Enttäuschungen gegenüber den Grünen zu einer gewissen Gegenbewegung kommt.
Enttäuschung ist auch bei Wechslern von der SVP zur FDP der Hauptgrund. Allerdings kennt die FDP auch Enttäuschte, die zur GLP wechseln. Wo die Grünen an die GLP verlieren, ist das neue Angebot der GLP entscheidend.
Generell gilt, dass die Parteien an oder nahe den Polen zu weit links oder rechts gesehen werden. Am klarsten gilt das für die Grünen – selbst bei den Personen, die weiter für sie stimmen würden.
Bei der Mitte und der GLP ist eher ihre Lösungskompetenz entscheidend, gefolgt von ihrem mässigenden Stil.

Bilanz
Ich halte das Hauptergebnis des Wahlbarometers für durchaus plausibel und in Ansätzen begründbar. Meine Bilanz lautet seit Längerem gleich: Das Parteiensystem stabilisiert sich wieder, mit leichten Gegenbewegungen zu 2019 und einer neuen Dynamik im liberalen Umfeld. Ersteres es typisch für die Schweiz, zweiteres eine Reaktion auf die Politik während der Pandemie.

Claude Longchamp