Baut sich in der Schweiz ein konservatives Lager auf, das neu Mitte/Links steht?

Polarisierung ist das meist zitierte Wort, um die Entwicklung der politischen Landschaft der Schweiz zu umschreiben. Gemeint ist damit, dass der Kompromiss im Zentrum erschwert wird, und sich Blöcke an den weltanschaulich geprägten Polen bilden. Im Vorfeld der Volksabstimmung vom 13. Februar 2022 zeigt sich das beispielhaft anhand der Parteiparolen.


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Die Jungparteien
Bei den Jungparteien gibt es bald nur noch zwei Lager: Zuerst das bürgerliche mit der Jungen SVP, dem Jungfreisinn und der Jungen Mitte. Sie wollen diesmal fast das Gleiche wie die Behörden, doch stemmen sie sich klar gegen das Medienpaket. Da macht ihre Rechtspositionierung aus.
Dann das linke Lager mit der Juso, den Jungen Grünen und der Jungen EVP. Sie weichen zweimal von den Behörden ab, denn sie sind gegen die Stempelabgabe und für die Einschränkung der Tabakwerbung. Das spricht für ihre Links-Positionierung.
Dazwischen sind nur die Jungen Grünliberalen. Doch auch sie sind nicht auf Behördenposition, denn sie befürworten die Tabak-Initiative.
So wie National- und Ständerat entscheiden haben, ist keine Jungpartei mehr ganz einverstanden.

Die Mutterparteien
Bei den Mutterparteien sind die Parolen mit Ausnahme des Medienpakets identisch. Da sind Mutter- und Jungpartei der Mitte nicht einer Meinung.
Auch hier ist die Polarisierung hoch, wenn auch nicht ganz so stark wie bei den Jungparteien. Es gibt den linken Pol mit SP, GPS und EVP respektive den rechten mit SVP und FDP. Die Mitte und glp bilden das Zentrum, auch wenn es nicht geschlossen ist. Denn die glp ist für die Einschränkung der Tabakwerbung, die Mitte dagegen.
Es gibt auch eine weitere Besonderheit im Parolenspiegel der Mutterparteien. Sie betrifft die oft vergessene EDU. Sie ist gegen fast alles, was zur Abstimmung ansteht. Nur bei der Tabakwerbung stimmt sie für die Volksinitiative.
Vergleicht man alle Abstimmungsempfehlungen der Mutterparteien, fällt auf, dass sich EVP und EDU dem linken Pol angenähert haben. Sie wollen wie SP und Grüne die Stempelsteuer beibehalten, und sie möchten die Regulierung der Tabakwerbung verschärfen. Letzteres hat mit ihrem konservativen Gesellschaftsbild zu tun. Es kommt einem Statement gegen die bürgerliche Wirtschaftspolitik gleich. Das war man sich von den beiden christlich argumentierenden Parteien bis vor Kurzem nicht gewohnt.

Die Symptome im Kleinen
Angefangen damit hat die EVP, die sich in der laufenden Legislaturperiode aus der Mehrheit der Mitte-Fraktion im Parlament gelöst hat. Sicherheitspolitisch positioniert man sich bürgerlich, wirtschaftspolitisch aber konsequent links. Das findet sich neuerdings auch bei der EDU.
Man kann das als Folge der Pandemie-Politik der Schweiz sehen. Diese hat die oberste Priorität der politischen Entscheidungen zugunsten der Unternehmen relativiert. Gesundheitspolitische Einwände werden geltend gemacht, aber auch ethische Anforderungen an die Wirtschaftspolitik.
Klar, das macht, wenn die EVP und EDU geschlossen stimmen, nicht viel aus. Konkret bedeutet es eine Stärkung der linken Position um 4 Prozentpunkte. Angesichts wiederkehrend knappen Entscheidung bei Volksabstimmungen ist das jedoch nicht zu unterschätzten. Es stärkt die Zustimmung für eine restriktivere Tabakwerbung und es schwächt das Ja zur Abschaffung der Stempelsteuer. Sollten die Entscheidungen knapp sein, ist die hier gemachte Beobachtung durchaus von Belang.

Neuordnung der Parteienlandschaft?
Man kann den aktuellen Parolenspiegel auch in einem grösseren Kontext sehen. Bis jetzt zeichnet sich die schweizerische Parteienlandschaft im internationalen Vergleich dadurch aus, dass es kaum linkskonservativ politisierende Parteien gab. Die SP war das bis in die 1980er Jahre, heute ist sie wie die Grünen klar linksprogressiv platziert. Das zeigte der Versuch ihres Präsidenten Balthasar Glätztli 2021, seine Partei linkskonservativ zu profilieren. Er scheiterte schon in den Ansätzen.
Doch die Annäherung der EVP und abgeschwächt auch der EDU an den linken Pol der Parteienlandschaft könnte ein interessanter Hinweis sein, dass sich eine neue konservative Kraft mitte/links etabliert. Wirtschaftspolitisch stimmt sie mit den linken Parteien, gesellschaftspolitisch bleibt sie sie bürgerlich-konservativ.
Eine Untersuchung der Universität Zürich zeigte 2014 auf, dass es dafür durchaus Potenzial gibt. Der Kanton Tessin stimmt häufig so, und auch eine Minderheit der Stimmenden ist auf dieser Position. In den Gewerkschaften gibt es entsprechende Ausrichtungen.
Parteipolitisch gab es dafür aber kein Angebot für eine solche Basis.
Ein Ja zur eingeschränkten Tabakwerbung und ein Nein zur Stempelabgabe am 13. Februar 2022 würde dafür sprechen, dass sich der linksprogressive Pol der Schweizer Politik thematisch verstärken kann und so auch Abstimmungen gewinnen kann. Eine Voraussetzung wäre, dass SP und Grüne nicht allein die linksprogressive Politik befürwortet, sondern auch Allianzen zu Parteien sucht, die das absolute Primat der liberalen Wirtschaftspolitik ablehnen und Balancen suchen, dass sich Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt im Einklang entwickeln. Aller Polarisierung zum Trotz.