Was soll zuerst sein: die Integration oder das Stimmrecht der AusländerInnen?

gekürzte Fassung der Kolumne für Swissinfo.

Um das Stimmrecht von Ausländer:innen in der Schweiz ist jüngst eine heftige Debatte entstanden: Sollen sie sich zuerst integrieren, um das Stimmrecht zu erhalten, oder sollen sie das Stimmrecht erhalten, weil sie sich dann besser integrieren. Meine neues Kolumne für Swissinfo.


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Das alte Prinzip der Blutlinie
Der Ständerat liess sich jüngst nicht umstimmen. Er sagte Nein zu einer Motion, die verlangte, dass Ausländer:innen automatisch eingebürgert werden, wenn sie in der Schweiz geboren wurden. Damit hätten sie mit 18 Jahren auch das volle Stimm- und Wahlrecht erhalten. 29 Kantonsvertreter:innen waren dagegen, 13 dafür. Auch Bundesrätin Karin Keller-Sutter lehnte die Forderung im Namen der Landesregierung ab.
Letztlich standen sich vor der Entscheidung zwei Prinzipien gegenüber:
Da ist einerseits das “ius sanguinis”, zu Deutsch das Blutrecht oder Abstammungsprinzip. Demnach bestimmt die Nationalität der Eltern – oder auch nur eines Elternteils – die Nationalität der Kinder.
Dort ist andererseits das “ius soli”, auch Bodenrecht oder Geburtsortsprinzip genannt. Demnach erhalten Kinder die Staatsbürgerschaft aufgrund des Ortes, wo sie auf die Welt kommen.

Zuerst ging um Holz und Almosen
Die Historiker:innen Brigitte Studer, Gerald Arlettaz und Regula Argast schreiben in ihrer umfassenden Geschichte des Schweizer Bürgerrechts: Unser Land folgt dem Abstammungsprinzip und kombiniert in enger Art und Weise die Nationalität, die Bürger- und die politischen Rechte. Sie leiten das Abstammungsprinzip aus der Vorgeschichte des Schweizer Bundesstaats ab.
Bis zum Ende das 18. Jahrhunderts war die räumliche Mobilität selbst zwischen den Kantonen gering. Wer einen ortsansässigen Stammbaum hatte, konnte von Gemeindegütern wie Holz profitieren und wurde bei Armengenössigkeit von der Heimatgemeinde aufgenommen.
Der junge Bundesstaat – gegründet 1848 – rüttelte daran nicht. Er integrierte vor allem die kantonale Rechtsprechung. Eine wichtige Entscheidung fällte er jedoch, denn die doppelte Staatsbürgerschaft wurde ausgeschlossen. Damit wollten die Staatsväter verhindern, dass Schweizer den Militärdienst wahlweise in der Schweiz oder einem anderen Land leisten konnten. Denn Pflichten als Schweizer und Rechte als Bürger gehörten im 19. Jahrhundert eng zusammen.

Einengung im 20. Jahrhundert
Folgenreich waren die Veränderungen im Verständnis von Nationalität während des 20. Jahrhunderts, als Einwanderer aus dem südlichen Europa in die Schweiz kamen. “Assimilation” wurde zum Schlagwort. Gemeint war damit, man könne nur dann ein guter Schweizer sein oder werden, wenn man gut angepasst lebe. Es war eine Reaktion auf die wachsende Zahl an Ausländer:innen, die mit der Industrialisierung einwanderten.
Nochmals verengt wurden das schweizerische Selbstverständnis mit dem Zweiten Weltkrieg. Von der Staatsbürgerschaft generell ausgeschlossen wurden Mittellose, Flüchtlinge und Juden.
Zudem verschärfte man noch im Vollmachtsregime, also in der Zeit um den Zweiten Weltkrieg, die Heiratsregeln. Schweizerinnen, die einen Ausländer heirateten, verloren ihre Staatsbürgerschaft. Und sogenannte Scheinehen von Ausländer:innen mit einem Schweizer konnten aufgelöst werden.
Mit dem neuen Bürgerrechtsgesetz von 1952 baute die Schweiz dann zwar einige Diskriminierungen von Frauen ab, verfolgte aber die ausschliessende Politik bei der Staatsbürgerschaft weiter. So wurden die Tauglichkeitskriterien für die Einbürgerung nochmals verschärft, die Wohnsitzfrist weiter verlängert und die Eignungsprüfung im Gesetz festgeschrieben.

Die Oeffnung mit der Einführung des Frauenstimmrechts
Wie überkommen das Verständnis von Nationalität und politischen Rechten geworden war, merkte die Schweizer Öffentlichkeit erst 1978, als der erfolgreiche Kinofilm “Die Schweizermacher” von Rolf Lyssy mit Emil Steinberger in der Hauptrolle das inquisitorische Verhalten der Polizei bei Einbürgerungswilligen humoristisch auf die Schippe nahm.
Ganz durchbrochen wurden die Einheit von “Soldat und Bürger” aus dem 19. Jahrhundert der Einführung des Frauenstimmrechts 1971. Zwar lag eine Forderung nach einer obligatorischen Frauendienstpflicht vor, doch umgesetzt wurde diese nicht. So bekamen die Frauen die politischen Rechte dank den Menschenrechten auch ohne Armeedienst zu leisten. 1992 bekräftigte man dies, indem die Frauen beim Bürger:innenrecht den Männer vollständig gleichgestellt wurden.

Diversität als Leitbegriff des 21. Jahrhunderts
Neuer Leitbegriff des 21. Jahrhunderts ist denn auch die Diversität. Gefragt ist Vielfalt, denn diese erweitert die Kompetenzen einer modernen Gesellschaft. Die international tätige Wirtschaft hat das längst begriffen. Sie eröffnet kompetenten Zuwanderer:innen den Aufstieg bis in ihre Unternehmensspitzen und oberste Gehaltsklassen.
Doch die institutionelle Politik zögert. Denn es regt sich Widerstand in den konservativen Bevölkerungskreisen und bei den Parteien, die dem klassischen Bürger:innenleitbild anhängen.
Nägel mit Köpfen macht nun die Aktion “Vierviertel”. Sie fordert nicht weniger als den mutigen Entwurf einer neuen Gesellschaft: Wer hier lebt, solle ein Grundrecht auf Einbürgerung erhalten. Dafür ist die Bewegung bereit, eine Volksinitiative zu starten.
Dabei stützen sich die Initianten unter anderem auf eine politikwissenschaftliche Studie der Universität Luzern, die 2016 publiziert wurde. Sie bestimmte im internationalen Vergleich den “Immigration Inclusion Index”. Dabei landete die Schweiz auf dem zweitletzten Platz von über 20 untersuchten Ländern. Die Nachbarn Frankreich und Italien sind demnach deutlich inklusiver, aber auch Deutschland und Österreich rangieren vor der Schweiz.
Besonders auffällig ist, dass durch die lang anhaltende, exklusive Einbürgerungspraxis der Anteil der Einwohner:innen mit politischen Rechten gesamtschweizerisch am Sinken ist. In Kantonen wie Genf und Baselstadt nähert er sich bald der 50 Prozent Marke.
Eine weitere Studie, erstellt an der ETH Zürich, liefert weitere Argumente. Sozialforscher Dominik Hangartner konnte in einem Experiment zeigen, dass Personen, die vor 10 Jahren eingebürgert wurden, heute deutlich stärker integriert sind als jene, denen die Einbürgerung damals verwehrt wurde.

Die neue Optik auf eine alte Frage
Das kehrt einen festen Glaubenssatz der Gegner:innen einer neuen Gesellschaft der Bürger:innen um. Denn Integration ist keine Voraussetzung der Einbürgerung, vielmehr ist sie eine Folge davon.
Die Schweizer Demokratie lebte und lebt wie kaum eine andere von der Partizipation ihrer Mitglieder. Wenn das “ius soli” irgendwann das “ius sanguinis” ergänzt, wäre es für diese nur ein Gewinn.