Bern: Der Blick ins Herz der linken Schweiz

Bern hat gewählt und gestimmt. So wie nirgends sonst in der Schweiz. Was zeigt der Blick ins Herz der linken Schweiz?

Folgt man der ausgezeichneten Dokumentation des Städteverbands zur politischen Repräsentation in allen Schweizer Städten, war Bern schon seit vier Jahren die Stadt mit dem höchsten Frauenanteil im Parlament. 46 Frauen standen 34 Männern gegenüber.
Trotzdem machte die Frauenvertretung bei den gestrigen Wahlen für das Parlament ab 2021 einen gigantischen Sprung. Neu sind es 55 Frauen oder 68.7 (statt 57.7) Prozent.
Einsamer Schweizer Rekord!
Auf eine Kurzformel gebracht: Nirgends zeigten «Helvetia ruft!», der Frauenstreik und die Parlamentswahlen von 2019 eine solche Wirkung auf das politische Repräsentationsverständnis wie in der Bundesstadt.
Bern ist nicht nur Spitzenreiter, die Stadt ist eigentlicher Trendsetter.

Anatomie der politischen Frauenmacht
Die Uebersicht über Neu- resp. Abgewählte zeigt, wie heftig die Feminisierung der Politik in der Aarestadt an diesem Wochenende ausfiel: 16 der 18 Neugewählten sind Frauen, 11 der 12 Abgewählten Männer! In Bewegung ist aber nicht die ganze Parteienlandschaft. Dies trifft vor allem auf den sozial-öko-liberalen Teil der Parteienlandschaft zu.
Beim GB sind alle 11 Gewählten Frauen.
Bei der SP sind neu 16 von 20 Abgeordneten Frauen.
Die GFL, der dritte Partner des regierenden RGM-Bündnisses zählt 4 Frauen und 3 Männer im Stadtrat.
Da sind die Verhältnisse selbst bei der neuen DP mit 7 Frauen auf 8 Abgeordneten noch klarer. Gleiches gilt für die CVP mit 2 Frauen und 0 Männern.
Die Ausnahme findet sich bei der GLP, wo 5 Männer 3 Frauen gegenüberstehen.
Und selbstredend hat die SVP einen Männerüberhang.

Der übergeordnete Trend
Ganz überraschend ist der Trend nicht!
Nach den eidg. Wahlen 2019 sprach man vielerorts von einem politischen Umbruch mit dem die Politik weiblicher, jünger und urbaner werde. Der Umbruch finde in den grösseren Städten und in den nachrückenden Generationen verstärkt statt, zeigten Nachanalysen. Und er bringe die Frauen, historisch gesehen politisch in der Minderheit erstmals deutlich vermehrt an die
Schalthebel der politischen Macht.
Globale politische Analysen sehen diese Entwicklung als Bestandteil eines umfassenden Wandels von vorherrschenden sozialkonservativen Leitbildern hin zu sozialliberalen. Jene definierten sich aus der sozio-ökonomischen und wertemässigen Verunsicherung angesichts wirtschaftlicher Brüche und Herausforderungen namentlich rund um die Migrationsfragen. In der Schweiz wurde diese nach 1992 durch den Aufstieg und langanhaltendem Höhepunkt der nationalkonservativen SVP markiert.
Die sozialliberale Grundströmung hat sich in den letzten Jahren davon schrittweise emanzipiert und das Spektrum von links her bis in die Mitte verändert. Fünf (Neu)Orientierungen sind dafür typisch:
· Oekologie ist wichtiger als Oekonomie;
· individuelle Selbstentfaltung statt traditionelle Rollenbilder für die Geschlechter;
· Empathie für fremde Menschen und Kulturen statt Misstrauen ihnen gegenüber;
· globale Kooperationen statt internationale Abgrenzungen auf;
· und schliesslich: die selbstbewusste Frau statt dem starken Mann.

Die Momentaufnahme an diesem Wahl- und Abstimmungswochenende
Wie weit dieser Umbruch in Bern bereits ist, zeigt sich an diesem Wahl- und Abstimmungswochenende auch bei den eidg. Volksentscheidungen. In keiner anderen Stadt fanden die beiden Initiativen im Schnitt eine so breite Anhängerschaft wie hier. Drei Viertel der zahlreich Stimmenden sagten ja zur Konzernverantwortungs-Initiative, 70 Prozent zur Kriegsgeschäftevorlage. Damit übertraf Bern linke Städte wie Lausanne, Biel/Bienne, Genf, Zürich und Basel um einiges, aber auch Luzern, Lugano und St. Gallen, die alle zwei Mal Ja stimmten, aber weniger deutlich als die Bundesstadt.
Passend dazu der erneute Linksrutsch in Berns Regierung und Parlament.
Noch nie war das regierende RGM-Bündnis so stark wie beim den jüngsten Exekutivwahlen. 63 Prozent der Wählenden stimmten (im Proporzwahlverfahren) für ihre vier rotgrünen KandidatInnen. Sie wurden alle glatt (wieder) gewählt.
Der Angriff von rechts mit dem «Bürgerlichen Bündnis» aus FDP und SVP scheiterte kläglich. Gerade 15 Prozent der Stimmen sammelte es nicht. 6 Prozentpunkte weniger als vor vier Jahren, als man getrennt antrat. Das reichte wiederum keinen der 5 Sitze im Gemeinderat.
Wiedergewählt wurde dagegen der CVP-Vertreter, der sich in der Mitte nicht nur mit der BDP und EVP, auch mit der GLP arrangierte und so zum vierten Mal gewählt wurde.
Im Berner Stadtparlament wird Rotgrün ab 2021 erstmals eine numerische Mehrheit an abgeordneten haben. Denn SP, Grüne und nahe Verwandte bringen es auf 41 der 80 Sitze. Um Beschlüsse zu fassen braucht es nicht einmal mehr die GFL des Stadtpräsidenten Alec von Grafenried, die als Mitte dem RGM-Bündnis angehört.
Politisch dürfte das RGM-Bündnis weiter Bestand halten, denn zu divers sind die Positionen in der zersplitterten Berner Politlandschaft. Allerdings dürften sich die Akzente nach links verschieben.
Die wichtigste Alternative, die sich neu aufbaut, ist die GLP. An diesem Wochenende avancierten sie dank Sitzgewinne insbesondere der Jungen GLP zur zweistärkten Partei in der Bundesstadt, hinter der SP, aber vor den in mehreren Parteien aufgeteilten Grünen.

Der kurze Ausblick
Beim Blick mitten ins Herz der linke Schweiz bekommt man den Eindruck, dass Rotgrün weiter erstarkt, die Mitte sich um die GLP herum gruppiert und das bürgerliche Lager ausser bei den progressiveren Frauen in einer tiefen Agonie steckt.