Der Schweizer Bundesrat. Eine Erfolgsgeschichte bei Sonnenschein. Aber wehe, es regnet!

Der Bundesrat ist eine echte Schweizer Erfindung. Bisher war sie politikwissenschaftlich kaum erforscht. Ein Buch des Politologen Adrian Vatter zur Schweizer Regierung holt das nach – und weist auf Punkte hin, die korrekturbedürftig sind.

Werder-noch: ein Hybrid eben
Die klassische Lehre der Regierungssysteme sieht es simpel. Da ist das parlamentarische System, mit der Volkswahl des Parlaments, wie in Grossbritannien. Es bestimmt in seiner Mehrheit die Regierung – und es kann sie stürzen, wie auch die Regierung das Parlament auflösen kann.
Und da gibt es das präsidentielle System wie in den USA. Gewählt werden Parlament und Regierung in separaten Volkswahlen, so dass sie ihre eigene Legitimation bei der wechselseitigen Kontrolle haben.
Doch wird das der Vielfalt der heutigen Regierungssysteme nicht gerecht. Das hat auch mit der Schweiz zu tun. Hier wird der Bundesrat zwar vom Parlament gewählt, aber für eine feste Zeit von vier Jahren. Genau wie die Parlamentarierinnen und Parlamentarier. Absetzung ist bei beiden Ämtern und in beide Richtungen nicht vorgesehen.
Zur Volkswahl des Bundesrats konnten sich weder die Schweizer Verfassungsväter von 1848 durchringen. Noch fand einer der drei Versuche, die Bundesratswahl dem Volk zu überlassen, beim Souverän eine Mehrheit. So besteht die genuine Schweizer Erfindung von 1848 im Wesentlichen bis heute unverändert.
Adrian Vatter, der jetzt die erste umfassende politologische Abhandlung zum Bundesrat vorlegt, nennt es in seinem jüngsten Buch* ein “hybrides Regierungssystem”. Es basiert auf dem Prinzip einer kollegialen Exekutive, die zwar vom Parlament gewählt ist. In der Arbeit aber ist der Bundesrat weitgehend eigengesetzlich. Kontrolliert werden beide Behörden durch Volksabstimmungen, also direkt durch das Volk, das wenn nötig auch korrigiert.

Die drei Zwickmühlen des Bundesrats
Entstanden ist dieses Regierungssystem im 19. Jahrhundert. Die Franzosen begründeten in der Zeit der Helvetischen Republik erstmals eine Kollektivregierung – zuerst mit fünf, dann mit sieben so genannten Direktoren. Die Gründer des Schweizer Bundesstaates nahmen dieses Modell auf, als sie den Bundesrat schufen.
Zwar schwankten sie bei der Zahl der Mitglieder, doch einigte man sich schliesslich auf sieben. Drei waren fix für die ehemaligen Vororte Zürich, Bern und Waadt reserviert. Die anderen Kantone erhielten zwar mit insgesamt vier Sitzen eine Mehrheit, hatten aber keinen Anspruch auf eine feste Vertretung. Nur die Sprachverteilung war über alle Zeiten hinweg heilig. Bis heute gibt es solche informellen Regeln für die Zusammensetzung des Bundesrats, etwa für Sprachen und Parteien.
Strukturiert wurde der Bundesrat von Anfang an durch zwei Prinzipien: Die Mitglieder der Landesregierung sind gleichzeitig Teil des Kollegiums, aber auch Vorsteher eines Departements, einer Verwaltungseinheit. Im Kollegium entscheiden sie gemeinsam; im Departement alleine. Je mehr sich ein Mitglied des Bundesrats um letzteres kümmere, desto eher gehe die Gesamtsicht verloren, meint Adrian Vatter.
Der Politanalytiker nennt es das erste Dilemma unseres Bundesrats.
Doch führt der Autor auch zwei weitere Dilemmata an: Nummer zwei: Jedes Bundesrats-Mitglied ist gleichzeitig Teil einer Regierung wie auch Teil ihrer oder seiner Partei. Das war im 19. Jahrhundert nicht mitgemeint gewesen, weil es damals noch keine nationalen Parteien gab. Die heutigen Parteien FDP, CVP, SVP und BDP hatten also “Vertreter” in der Landesregierung, bevor sie auf dem Bundespapier existierten. Nur bei den Sozialdemokraten, die zu Beginn lange in der Opposition waren, war es gerade umgekehrt.
Schliesslich Dilemma Nummer drei: Die Einbindungen des Bundesrats in das Netzwerk der Verbände, Interessengruppen und Lobbyisten. Gemäss Vatter sind diese Bindungen in den letzten 30 Jahren deutlich intensiver geworden. Die wachsenden Erwartungen der Vertreter von Partikularinteressen erschwert.
Vatter sieht alle drei Dilemmata als Strukturprobleme des Schweizer Bundesrats. Von den Parteien vorgeschlagen, vom Parlament gewählt, von Verbänden beeinflusst und von den Stimmberechtigten kontrolliert: So könnte man das Schweizer Regierungssystem auf eine kurze Formel bringen.

Reformvorschläge

Vatters Studie ist interessant, weil sie nebst Geschichte und Funktionsweise auch Reformvorschläge aufzeigt.
Ausgangspunkt sind die zahlreichen Ideen seit den krisenhaften 1970er-Jahren. Umgesetzt wurde davon jedoch nur die kleine Staatsleitungsreform zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Mit ihr wurden maximal zehn Staatssekretariate geschaffen und die Generalsekretariate der Departemente gestärkt. So kann jedes Bundesratsmitglied sein eigenes, kleines Kabinett mit Verbindungen zu Parteien, Verbänden und Medien schaffen.
Der Politikwissenschafter Adrian Vatter ist sich sicher, dass diese Reform angesichts von Megatrends wie Internationalisierung oder Europäisierung, Medialisierung und Personalisierung, aber auch der neuen Polarisierung der Parteienlandschaft, Wirtschaft und Gesellschaft, nicht reicht.
Er stellt fest, der Bundesrat sei recht erfolgreich im Durchwursteln, wenn die Sonne scheint, aber konzeptlos, wenn es regnet. Die Europapolitik seit 1992, aber auch die Corona-Krise im Jahr 2020 zeigten dies exemplarisch.
Deshalb schlägt der Buchautor drei weitere Massnahmen der Regierungsreform vor. Jede für sich ist nicht neu. Ihre Kombination stellt aber das Ergebnis einer bisher einmalig umfassenden Evaluierung dar.
Namentlich sind das: Ein Konkordanz-Vertrag, der die Kohärenz der Regierungstätigkeit fördert und die Prioritäten erhöht. Die Regierungsparteien sollen so besser eingebunden werden.
Ein gestärktes Präsidialdepartement nach dem Vorbild von Kantonen wie Waadt und Baselstadt, das die Planungs-, Leitungs- und Koordination des Gremiums Bundesrat erhöhen soll. Die heutige Bundeskanzlei soll so aufgewertet werden.
Und eine Bundesratswahl mit mehreren Listen, welche vorgegebene sprach- und parteipolitischen Anforderungen erfüllen, personell aber verschieden sind. Statt Ränkespiele schmieden, soll das Parlament so die politische Richtung vorgeben.
Drei gewichtige Korrekturen zum Ist-Zustand erwähnt der Berner Professor also in seinem Buch.

Der Konkordanz-Vertrag soll die inhaltliche Stossrichtung verbessern.
Das Präsidialdepartement soll die Führung stärken.
Die Listenwahl soll eine homogene Zusammensetzung der Regierungsmitglieder garantieren.

Die Schweizerische Form des Regierungssystems würde dadurch anders, meint Vatter. Sie würde sich wohl dem parlamentarischen System annähern, ohne aber da zu enden. Sie bliebe auf dem bisherigen Pfad, weil der Bundesrat weiter durch Volksabstimmungen bestimmt wäre.
Aber die Regierungsform, so hofft der Autor, würde zielgerichteter. Denn das ist die offensichtliche Schwäche des Status Quo in der Schweiz: Das System stemmt sich gegen entschlossenes, geschlossenes Regieren.

Kasten: Neuer Wahlmodus für den Bundesrat
Politikwissenschafter Adrian Vatter stört sich an der Blockade, die 2019 bei der Bundesratswahl entstanden ist. Er schlägt vor, dass der Bundesrat neu nach der Parteistärke bei den Nationalratswahlen zusammengesetzt würde. Starke Veränderungen an einen Ort hätten Folgen am anderen Ort. Das Parlament würden dann nur noch die Personen bestimmen, nicht mehr einzeln, sondern in einer Auswahl aus mehreren Listen.
2019 hätte das ohne Sperrklausel von 10% zu einem Bundesrat mit zwei Sitzen für die SVP und je einem Sitz für SP, FDP, Grüne, CVP und GLP geführt. Mit einer Sperrklausel wäre der GLP-Sitz bei der SP geblieben.