Junge Wählende würden Zürich guttun

Datenblog für RepublikMagazin, 18. März 2019

Streiken gegen den Klimawandel: Die Jugend interessiert sich wieder für Politik. Und trotzdem zeichnet sich bei den Zürcher Wahlen eine
rekordtiefe Beteiligung ab. Was ist los? Und, was tun?

Bloss 17 Prozent der Stadtzürcher Wahlberechtigten haben im Hinblick auf die anstehenden kantonalen Wahlen ihre Stimme vorzeitig abgegeben. Ein tiefer Wert:
Für den 24. März zeichnet sich auf kantonaler Ebene eine Beteiligung von höchstens einem Drittel ab – auch ein tiefer Wert.

Unmittelbare Erklärungen

Warum lassen die Wahlen die Bürger kalt?
Vordergründig ist die politische Konstellation das Problem: Die bürgerliche Mehrheit im Kanton Zürich steht für die Zeit nach der Wahl bereits fest, genau so,
wie sie vor der Wahl schon bestand.
Einzige offene Frage ist: Kehren die Grünen nach vier Jahren in die Kantonsregierung zurück? Und, falls ja: Geschieht dies zulasten der FDP oder der SVP, die je einen
Rücktritt aus dem Regierungsrat zu verdauen haben?
Die Spannung ist entsprechend flau, ein Wendemoment fehlt. Eine Richtungswahl steht im Kanton Zürich trotz möglicher
Gewinne der Grünen nicht an.
Hintergründig ist die Sache jedoch vielschichtiger. Denn es ist nicht das erste Mal, dass die Wahlbeteiligung im Kanton Zürich niedrig ist. Im Gegenteil: Das Interesse
am kantonalen Wahlprozedere ist über die letzten drei Jahrzehnte – bis auf wenige Ausnahmen – von Mal zu Mal gesunken.
1995 gingen in Zürich noch 38 Prozent der Berechtigten an die Urne. Bei den letztmaligen Wahlen im Jahr 2015 waren es noch 33 Prozent. Bedenkt man, dass sich Wahlbeteiligungen in der Schweiz grundsätzlich innerhalb einer beschränkten Bandbreite bewegen, ist das ein markanter Rückgang.
Zudem ein Rückgang, der sich nicht auf der nationalen Ebene widerspiegelt. Hier lag die Wahlbeteiligung 1995 auf einem Tiefpunkt: Nur 42 Prozent der Bürgerinnen
legten damals einen Zettel in die Urne. Doch bis 2015 stieg die nationale Wahlbeteiligung an – um 6␣Prozent‧punkte auf zuletzt 49 Prozent.

Grafik
Regionale Wahlen interessieren weniger als nationale

Grafik anclicken, um sie zu vergrössern

Mit anderen Worten: Vor einem Vierteljahrhundert unterschieden sich die nationale und kantonalzürcherische Wahlbeteiligung um gerade 4 Zähler, vor vier Jahren
waren es bereits 16.
Einer der Trends, den die Politikwissenschaft diskutiert, ist die «De-Lokalisierung der Politik»: Gemeinde- und Kantonsgrenzen stimmen immer weniger mit den Lebensräumen der Menschen überein. Wo diese noch real sind, werden sie durch das Zusammenspiel von Wohn- und Arbeitsort bestimmt – Leute wohnen im Aargau und arbeiten in Zürich –, nicht aber durch die politischen Gebietsgrenzen. Währenddessen herrscht im virtuellen Raum die schier grenzenlose Netzkommunikation.

Themen mobilisieren stärker als Personen

Was bedeutet das für das Wahlverhalten?
Um mehr darüber zu erfahren, muss man näher an die Wählenden und den Wahlkampf herangehen. Zwei Punkte sind relevant.
Auf der Seite der Wählenden: soziale Isolierung, generelles Politikdesinteresse und Überforderung mit dem relativ komplizierten
Wahlrecht. Sie alle begünstigen, dass gewisse Personengruppen seltener an Wahlen teilnehmen – beispielsweise ältere Frauen, junge Familien oder gering Ausgebildete.
Auf der Seite des Wahlkampfes: populistische Mobilisierungen, Provokationen im Wahlkampf über das Akzeptierte hinaus oder Themen, die aus einer bestimmten
Wahl eine Quasi-Abstimmung machen. Sie können dazu führen, dass die Wahlbeteiligung punktuell stark ansteigt. Dies ist typischerweise der Fall, wenn Wählende
mit ausgesprochener Protesthaltung, solche mit Vorlieben für unkonventionelle Aktionen oder Aktive, denen Sachfragen wichtiger sind als Personenfragen,
motiviert werden, zur Urne zu gehen.
Sicher ist, dass Themenentscheidungen mehr interessieren als die Auswahl von Personen. Ein Indiz dafür sind die Beteiligungszahlen bei Volksabstimmungen. Diese schwanken stärker als jene bei Wahlen. Stimmte die Schweiz beispielsweise wie am 16. März 2012 einzig über die Änderung des Tierseuchengesetzes ab, äusserten sich gerade einmal 28 Prozent der Stimmberechtigten. Ging es aber um die Durchsetzungsinitiative der SVP, wie genau vier Jahre später, äusserten sich 62 Prozent. Das entspricht einem themenbedingten Mobilisierungsunterschied von ganzen 34 Prozentpunkten.
Gegen die allgemeine Politikverdrossenheitsthese spricht auch, dass die Stimmbeteiligung auf gesamtschweizerischer Ebene nicht gesunken, sondern leicht
gestiegen ist. In der Legislaturperiode von 1995 bis 1999 lag sie im Mittel bei 39 Prozent. Zuletzt, also zwischen 2015 und 2018, lag sie höher: bei 45 Prozent. Der
Anstieg ist mit 6 Prozentpunkten zufälligerweise genau gleich hoch wie jener bei der bereits gezeigten nationalen Wahlbeteiligung.
Bei der Stimmbeteiligung wies übrigens auch der Kanton Zürich zuletzt hohe Zahlen auf. Die Teilnahme an kantonalen Abstimmungen ist 2015 bis 2018 gegenüber der vorangehenden Legislatur von 39 auf 46 Prozent gestiegen.

Grafik 2
Abstimmungsbeteiligungen schwanken, vor allem kantonale

Grafik anclicken, um sie zu vergrössern

Drei Verhaltensdispositionen

Wer geht in der Schweiz also an die Urne – und wie oft?
Bei Abstimmungen sind drei Verhaltensweisen der Stimmberechtigten bekannt:
– 25 bis 30 Prozent der Bürger bilden den Sockel der Demokratie. Diese Leute nehmen konstant an Abstimmungen und Wahlen teil, sind politisch generell
interessiert und weltanschaulich gefestigt – egal, ob sie mit einer Partei sympathisieren oder nicht.
– Weitere 20 bis 25 Prozent sind dauerhaft abwesend. Sie sind politisch desinteressiert, stehen Ideologien distanziert gegenüber und haben keine
Bindung an eine Partei.
– Dazwischen sind rund 50 Prozent, die sich selektiv an Volksentscheidungen beteiligen. Sie haben ein politisches, wenn auch meist ein spezifisches, auf
konkrete Themen gerichtetes Interesse; und sie ordnen Sachverstand dazu bestimmten Parteien zu. Diese unterstützen sie bei Wahlen – oder lassen es ohne
Skrupel auch sein.
Eine höhere Wahlbeteiligung als die gut 30 bis 35 Prozent, die sich nun im Kanton Zürich abzeichnen, wäre also durchaus möglich. Nur bräuchte es dafür mehr
Themen, mediale Kontroversen und politische Alternativen.

Die grosse Altersfrage

Wie liesse sich die Wahlbeteiligung sonst steigern?
Rezepte, die von heute auf morgen wirken, existieren kaum. Doch es gäbe eine Idee für die Zukunft.
Die grosse Eigenheit der politischen Beteiligung in der Schweiz ist die hohe Abhängigkeit vom Alter. In Österreich, Deutschland oder Italien wählen Junge etwa
gleich oft wie Alte. In der Schweiz ist dies anders:
– Ältere Bürgerinnen nehmen ihre Stimm- und Wahlrechte häufiger wahr als Jüngere – die Beteiligung steigt mit dem Alter.
– Die höchsten Beteiligungsraten bei nationalen Abstimmungen und Wahlen finden sich bei den 70-Jährigen.
– Bei noch älteren Menschen gehen die Werte aufgrund der eingeschränkten Mobilität wieder zurück.
– Bei allen Jüngeren sind sie dagegen als Folge des Werte- und Normenwandels tiefer, meist sogar viel tiefer.
Wie kam es dazu? In der Schweiz hatte die Generation Y grossen Einfluss. Sie wurde nach 1980 geboren und ist seit der Jahrtausendwende stimm- und wahlberechtigt.
Schul- und Studienabschlüsse, der Berufseinstieg und die meist gleichzeitige Familiengründung standen im Zentrum. Für Politik blieb häufig weder Energie noch
Zeit übrig. Der Ruf der unpolitischen Generation ist bereits legendär.
Gemäss dem Politikmonitor von easyvote zeichnen sich aber Änderungen ab. In der Generation Z, heute 15- bis 25-jährig, sind die Anteile der Apolitischen rückläufig.
Konstant sind die institutionell Partizipierenden. Dafür nimmt die virtuelle Einbindung in die Politik zu, und jene Personengruppe wird zahlreicher, die zu
unkonventioneller politischer Aktivität bereit ist. Es handelt sich insgesamt also um eine Generation, die wieder mehr politisches Interesse zeigt.
Man kann diesen Wandel gegenwärtig an den Streiks und Demonstrationen zum Klima nachvollziehen. In kurzer Zeit trat eine Schülerinnen- und Studierendenbewegung flächendeckend und zahlreich an die Öffentlichkeit. Dies, weil die Klimafrage längst schwelte, weil die junge Generation die neuen und schnellen
Kommunikationsmittel zu nutzen weiss und weil sowohl globale Vorbilder als auch lokale Förderer vorhanden sind.
Ob diese jungen Aktiven die Wahlbeteiligung kurzfristig nach oben drücken, bleibt fraglich. Doch dürfe eine neue politische Generation nachrücken, die sich mehr
Nachhaltigkeit auf die Fahne geschrieben hat. Und die auch eine intensivere Partizipation an der Demokratie anstrebt.

Für Stimm- und Wahlrechtsalter 16

Deshalb ein kleines Plädoyer – für ein Stimm- und Wahlrechtsalter 16 in der Schweiz!
Österreich hat diese Massnahme vor gut zehn Jahren beschlossen – die Erfahrungen sind gut. In Deutschland argumentieren Fachleute ebenfalls, dass die Urteilsfähigkeit junger Menschen gestiegen ist und eine Senkung des Alters für die politische Mündigkeit deshalb möglich ist.
Doch die Schweiz bockt. Hierzulande wehrt man sich mit Gegenargumenten: Junge Menschen seien zu sprunghaft und hätten kein gefestigtes politisches Interesse.
Genau dies ist allerdings mehrheitlich auch bei den Erwachsenen der Fall, wie die obigen Grafiken zeigen. Gewarnt wird weiter, die Linke würde profitieren. Auch dies
ist eine Nebelpetarde: Gemäss Wahlbarometer wollen die heutigen Erstwähler an erster Stelle den Jungfreisinn wählen, danach die Junge SVP sowie die Juso.
Die Medianteilnehmenden bei Wahlen und Abstimmungen – jene also, welche die politisch Aktiven in zwei gleich grosse Gruppen teilen – sind heute 57 Jahre alt. Ihr
Alter steigt mit der Alterung der Gesellschaf stetig an. Die Senkung des Stimmrechtsalters von 18 auf 16 Jahre würde diesen Wert nur minimal senken. Man
muss sich vor Augen führen, dass die Schweiz so oder so droht zur Gerontokratie zu werden – zur Herrschaft der Alten.
Umso nötiger wäre ein frischer Wind an der Urne. Er könnte helfen, farblose Wahlen wie die in Zürich bunter zu machen und sie aus der ritualisierten Bedeutungslosigkeit zu holen.