Ursachenforschung zur abgelehnten Managed-Care-Vorlage

Das ist ausgesprochen selten: Die Wählerschaften einer jeden Regierungsparteien lehnten gemäss VOX-Analyse bei der Gesundheitsreform “Managed Care” eine Parlamentsvorlage mehrheitlich ab. Eine Ursachenklärung.

Heute erscheint die VOX-Analyse eidgenössischer Volksabstimmungen zu den Entscheidungen vom 17. Juni 2012. Verfasst wurde sie vom Institut für Politikwissenschaften an der Uni Bern; Grundlage bildete eine Telefon-Befragung des Forschungsinstitut gfs.bern, nach dem Abstimmungssonntag bei gut 1500 repräsentativ ausgewählten Personen realisiert.

Tagesschau vom 10.08.2012

Auffälligstes Ergebnis der Volksabstimmung und der Studie hierzu: Mit 76 Prozent Nein war nicht nur der Nein-Anteil exemplarisch. Sehr selten wird zudem eine Vorlage, die vom Parlament verabschiedet wurde, von der Basis aller Regierungsparteien abgelehnt. Bei der SVP waren 87 Prozent dagegen, bei der 72, bei der CVP 68 und bei der BDP geschätzte 64 von Hundert. Zur Erinnerung: Die Volks- und Ständevertreter aus den Reihen dieser Parteien hatten allesamt die Vorlage mehrheitlich unterstützt. Einzig die SP hatte in der Schlussabstimmung die befürwortende Seite, der sie ursprünglich auch angehört hatte, schon damals verlassen. Ihre Wählerschaft quittierte das mit einem 68prozentigen Nein. Der Zerfall der parlamentatischen Reformallianz verstärkte sich zu Beginn des Abstimmungskampfes, als SVP und BDP das Lager wechselten, und nun legt die VOX-Studie nahe, dass der Support an FDP und CVP Basis bis zum Abstimmungstag weitgehend einknickte.

Eine wichtige Rolle als Entscheidungsgrundlage spielte die Verbreitung von Aerztenetzwerken. Denn wer so ins Gesundheitswesen integriert und damit zufrieden ist, stimmte der Vorlage stärker zu. Indes, auch hier ist der Anteil auf unter die Hälfte eingebrochen. Mit anderen Worten: Für eine weitgehende Verbindlichkeit der Zugehörigkeit zu einem Aerztenetzwerk um mit den bisherigen Prämien rechnen zu können, wollten nicht einmal die etwas wissen, die bevorzugt gewesen wären. Wer mit der Vorlage benachteiligt wurde, lehnte sie, fast selbstredend ab. Mit anderen Worten: Ausgereift war das Projekt trotz jahrelanger Vorarbeiten im Parlament nicht.

Populärste Botschaft dasgegen war die erwartete Einschränkung der freien Arzt- und Spitalwahl. 73 Prozent der Befragten rechneten mit dieser Konsequenz. 64 Prozent gingen davon aus, Managed Care werde einen weiteren Prämienanstieg nicht verhindern können. 62 Prozent befürchteten schliesslich das Entstehen einer Zwei-Klassen-Medizin – mit gut Verdienenden, die sich eine Top-Versorgung leisten können, und dem Rest, der zwangsversorgt werden würde. Einziger mehrheitlich geteilter Punkt der Vorlage war der Risikoausgleich, der das Interesse der Kassen gesenkt hätte, vorwiegend Junge und Gesunde unter ihren Versicherungen zu haben.

Differenziert ist die eben vorgelegte Analyse zum Zusammenhang von Wissen und Entscheidung. Das Fazit lautet hier: Die Vorlagenkenntnisse seien im Vergleich zu anderen,. ähnlich gelagerten Abstimmungen nicht auffällig tief gewesen. Indes, das neue KVG habe eine zu hohe materielle Fuelle enthalten. Das habe dazu geführt, dass der Abstimmungskampf und die AbstimmungsentscheiderInnen eine Reduktion der Komplexität vorgenommen hätten, und die Entscheidung auf wenigen Aspekten der Reform erfolgt sei. Dazu zählte, wie es sich schon im Voraus abzeichnete, die Folgen einer Annahme (resp. Ablehnung) auf die freie Arztwahl.

Thomas Milic, Hauptautor der VOX-Analyse (die auch die beiden anderen abgelehnten eidg. Vorlagen vom 17. Juni untersucht) vermittelte die zentralen Ergebnisse der Studie der “Tagesschau” von heute ausserordentlich klar. Im Beitrag von Adrian Arnold macht er klar, dass die erwaretete Folgen der Vorlage und die Erfahrungen mit dem Gegenstand im Alltag von Belang waren, nicht aber die Parteiparolen. Mit anderen Worten: Zwischen der Diskussion in der Arena “Parlament” und der Arena der StimmbürgerInnen gab es einen eklatanten Unterschied, der die exemplarische Verwerfung der Reform begründet. Ein Forschungsergebnis, dass die Politik zu ihrem Vorteil zu Kenntnis nehmen sollte!

Claude Longchamp