Die Schweizer Parlamentswahlen – in der Brille der Selects-Wahlstudie

Vor Wochenfrist erschien der Bericht zur Selects-Wahlbefragung, dem grössten Einzelprojekt der politologischen Forschung in der Schweiz. Für meine Vorlesung zu Wahlforschung in Theorie und Praxis an der Uni Zürich habe ich eine Durchsicht der ersten Ergebnisse 2011 vorgenommen, die meines Erachtens zwischen erhellend und verstellend ausfallen.

Am spannendsten in der Selects-Studie 2011 fand ich den Nachweis, dass es auch bei Schweizer Nationalratswahlen taktisches Wählen gibt. Verglichen wurde die effektive Parteiwahl mit den Wahlabsichten kurz vor der Entscheidung. Am klarsten war die Sache für die SVP-Wählerschaft; 87 Prozent blieben bei ihrer Vorentscheidung. Das Gegenstück bildeten die grünen Parteien: 42 Prozent der vormalig GLP-Interessierten wählten schliesslich FDP, BDP oder GPS. Auch bei eben dieser GPS lösten 36 Prozent ihre Wahlabsichten anders als anfänglich geplant ein: Relevanten Stimmentausch gab es hier gegenüber der SP und der GLP. Damit ist nicht das klassischen Wechselwählen gemeint, das heisst der Wechsel von der zurückliegenden zur aktuellen Wahl. Vielmehr geht es um kurzfristige Entscheidungen, die durch allerlei situtative Umstände verursacht sein können. Demnach schwankt ein beträchtlicher Teil der WählerInnen bis am Schluss, wer ihre Stimme bekommt – und wechselt rund eine Viertel auch.

Möglich wurde dieser Test durch zwei Arten von Befragungen, der Vorbefragungen in den 6 Wochen vor der Wahl, und einer Nachbefragung der gleichen WählerInnen, in den Tagen nach der Nationalratswahl. Ueberhaupt, das Methodendesign der Selects-Studie ist umfassender geworden, was weitere spannende Vergleiche verspricht. Denn die bisher dominierende Nachbefragung der InlandschweizerInnen wurde durch eine erstmalige Online-Erhebung bei AuslandschweizerInnen erweitert worden, und die Strukturanalyse der Wählerschaft ex post ist durch eine dynamische Betrachtung der Meinungsbildung von Tag zu Tag ergänzt worden. Und jene, die vorher interviewt wurden, befragte man im Nachhinein nochmals separat. Damit hat die Schweizer Wahlforschung methodisch an die Trends angeschlossen, die in den USA schon länger bekannt sind, neuerdings aber auch in Deutschland etabliert worden sind.

Trotz dieser Verbesserungen in der Datenlage hat das Selects-Projekt gerade im Konzeptionellen auch Schwächen. Zu ihnen gehört, dass die Operationalisierung der Wahlentscheidung fraglich bleibt. Denn die Studie unterstellt, als wählten alle SchweizerInnen Parteien. Effektiv geben sie jedoch ihre Stimmenen KandidatInnen von Parteien. Wählen sie Bewerbungen mehrer Parteien, verteilen sie ihre Stimmen auf die entsprechenden Parteien. Bisherige Schätzungen zeigen, dass rund die Hälfte reine ParteiwählerInnen sind, gut 40-45 Prozent auf der Parteiliste panaschieren, also Parteifremde berücksichtigen, und 5-10 Prozent mit einer Liste ohne Parteibezeichnung KandidatInnen wählen. Genaue Zahlen dazu hat man aber kaum, und vor allem kennt man die Struktur der drei Wählertypen nicht. Schliesslich bleibt es ein Geheimnis, wer – warum – unter den Parteien Nutzniesser und Geschädigter von dieser Eigenheit des Wahlrechts ist.

Weit im Voraus sind solche Differenzierung nicht auszumachen. Denn das Ausfüllen der Wahlzettel (und damit die Personenentscheidungen) geschieht im Wesentlichen in den 3 Wochen vor der Wahl. Indes, die neue Umfragetechnik unmittelbar vor der Entscheidung wurde nicht dazu eingesetzt, dem zentralen schwarzen Loch in der hiesigen Wahlforschung auf die Spur zu kommen. Nicht ausgeschlossen werden kann deshalb, dass ein Teil des beträchtlichen Taktierens, das der Bericht von Georg Lutz nachweist, auf eben solche Effekte zurückgeht: Man wählte effektiv mit der CVP-Liste, schrieb aber zahlreiche KandidatInnen von FDP, ja auch von SVP und SP auf die eigenhändig veränderte Liste.

Damit bin ich bei einem zweiten Mangel der vorgelegten Wahlanalyse. Die Personeneffekte beim Wählen werden in der Studie unterschäzt. Der Ansatz der Selects-Studie bewegt sich ganz auf der Linie der Theorien der rationalen Wahl, wonach Parteien aufgrund von individuellen Präferenzen hinsichtlich ihres Engagements und ihrer Kompetenz in Sachfragen gewählt werden. Das gibt denn auch Hinweise auf die Bedeutung von Migrations- resp. oder Umwelt- oder Energiefragen für einen Entscheid zugunsten der SVP oder einer grünen Partei. Entscheidungen für Parteien, die näher dem Zentrum sind, können in der Regel auf diese Art und Weise weniger gut erklärt werden. (Das gilt besonders für die aktuelle Erhebung, welche die Kompetenz der Parteien in Wirtschaftsfragen gar nicht ausweist). Denn in der Mitte sind Ideologien weniger wichtig, auch eignen sich die Streitthemen weniger für die Parteiprofilierung. Dafür spielen Traditionen eine grössere Rolle, ist der Stil wichtiger, und vor allem kommt es auf die Personenprofile an, die sich bewerben. Dabei geht es nicht einmal um die ganz grossen Alphatiere, die meist nur rechts für die Mobilisierung massgeblich sind; es interessiert mehr die KandidatInnenauswahl der Partei(en), die einen überzeugen soll, für eine Partei zu stimmen. Gerade hier, wo es um eine dem speziellen Wahlsystem der Schweiz angemessene Erklärungen gehen würde, stockt das Selects-Projekt seit längerem.

Dies wird immer problematischer, weil das Wahlgeschehen, wie überall in modernen Wahlkämpfen, auch in der Schweiz stark medialisiert worden ist. Von postmodernen Kampagnen sagt man, dass sie durch medienspezifische Zielgruppenansprache wirken. Das legt auch die KandidatInnen-Befragungen im Rahmen der Selects-Studie nahe, nicht zuletzt durch die eindrücklichen Auflistung, das nur rund 20 Prozent der Wahlkampf-Ausgaben unserer gewählter ParlamentarierInnen von ihren Parteien stammen, während je zirka 40 Prozent aus dem eigenen Sack resp. aus Spenden Dritter kommen – und das gesamte Geld vor allem für persönliche Give-Aways, Plakate und Inserate eingesetzt wird. Eine Uebersetzung dieses löblich dokumentierten Kommunikations-Trends in die Befragungen, welche die Partei- und Personenwahl bei schweizerischen Nationalratswahlen analysieren, blieb indessen 2012 weitgehend aus.

So kann man schliessen: Mit der Selects-Studie 2011 erfahren wir einiges über den Zusammenhang von Themen und Parteienwahl, auch etwas über Kampagnen, Parteientscheidungen und Mobilisierung. Jedoch, die Personalisierung und Medialisierung in und von Wahlkämpfen bleiben in ihren Wirkungen weitgehend unerklärt.

Claude Longchamp