Was Ständeratswahlergebnisse bestimmt

In meiner heutigen Vorlesung zur Wahlforschung in Theorie und Praxis werde ich zwei Stunden über Wege der Forschung bei Schweizer Ständeratswahlen sprechen. Majorzwahlen in Zweierwahlkreise sind wenig verbreitet. sodass die Schweiz durchaus als Feldexperiment für die Wahlforschung angesehen werden kann.


Personen- wie Kontextmerkmale bestimmen den Wahlerfolg bei Schweizer Ständeratswahlen. Hier die sechs relevantesten und signifikanten Faktoren, welche die jüngste Studie nachweisen konnte.

„Den Ständeratswahlen wurde seitens der Forschung bisher relativ wenig Aufmerksamkeit geschenkt.” So bilanziert das Handbuch Politisches System der Schweiz den Stand der Dinge.

Zurecht geben sich die Autoren verwundert, denn Ständeratswahlen böten eine ausgezeichnete Möglichkeit, etwas über das strategische Zusammenspiel der Parteien und Wähler zu lernen. Die 20 resp. 26 Wahlkreise bei Ständeratswahlen gäben zudem fast schon ideale Vergleichmöglichkeiten ab, um Einzelbeobachtungen zu verallgemeinern.

Nimmt man den jüngsten Berichts zur grossen Selects-Wahlstudie zur Hand, wir man allerdings erneut arg enttäuscht. Die halbamtliche Wahlforschung zur Schweiz befördert keine nennenswerten neue Befund zu Tage.

Ganz anders beurteile ich eine studentische Gruppenarbeit, im Herbstsemester 2011 ihm Rahmen des Berner Masterprogramms “Schweizerische und vergleichende Politik” erstellt. Carole Gauch, Simon Hugi, Raphael Jenny und Joel Weibel heissen die vier findigen Nachwuchsforscher, welche den Bericht “Der Weg in den Ständerat” verfasst haben.

Die Stärke der Arbeit liegt darin, alle (1. Wahlgänge) der Wahlen im Herbst 2011 in die kleine Kammer untersucht zu haben. Dokumentiert wurden Wahlergebnisse einerseits, Personen- und Kontextmerkmale anderseits. Gestest wurde ein neues Modell zur Erklärung der Stimmanteile, das anschliessend, soweit bewährt, als Prognose verwendet wurde.

Erstaunlichster Befund: In 140 von 145 Fällen kann man heute korrekt voraussagen, ob eine Bewerbung (in der ersten Runde) erfolgt hat oder nicht.

Das schrittweise erarbeitete Modell berücksichtigt sowohl Personen- wie Kontextmerkmale. Signifikant miteinbezogen werden müssen mindestens 6 Variablen:

. ob der/die AmtsinhaberIn wieder kandidiert
. ob die Partei der/des AmtinhaberIn wieder antritt
. wie intensiv die Medien über eine Kandidatur bericht
. die Stärke der Partei einer Kandidatur
. die Stärke der Allianz, die eine Kandidatur unterstützt und
. das Wahlrecht, insbesondere ob die Leerstimmen in die Berechnung des absoluten Mehrs miteinbezogen werden oder nicht.

Vielleicht kommen noch zwei weitere Bestimmungsgründe hinzu: ob man ein Ratspräsidium hatte oder Regierungserfahrung mitbringt. Die Fallzahl ist hier zu gering, um verallgemeinernde Aussagen zu machen; indes die Wirkung ist positiv. Eindeutig nicht der Fall ist dies, wenn man im Nationalrat sitzt; dafür hat es zwischenzeitlich viel zu viele Alibi-Ständeratskandidaturen, deren einziger Zweck ist, die Wiederwahl in die Volksvertretung zu sichern.

Selbstredend gibt es eine gesicherte siebte Variable: ob es sich um einen Zweier- oder Einerwahlkreis handelt.

Das neue Modell ist elaborierter als alle Faustregeln aus der Praxis, aber auch als die einzige wissenschaftlichen Annahme, nach den 1995er Wahlen von Hanspeter Kriesi formuliert.

Vorentscheidend ist (und bleibt), ob der/die Bisherige erneut kandidiert. Ist dies der Fall, bestehen gut Aussichten, dass er oder sie wieder gewählt wird. (Amtsdauer könnte sich zwischenzeitlich als negative Einflussgrösse erweisen.) Ist dies nicht der Fall, hat die Partei des bisherigen Amtsinhabers einen Vorteil. Der ist allerdings nicht mehr so ausschliesslich, wie man das bisher annahm. Vielmehr wirkt sich die Medienpräsenz der (neuen) KandidatInnen bereits halb so stark auf das Wahlergebnis aus. Modelliert wird das Ganze durch die kantonal verschienenen Definitionen der Berechnung der Mehrheit, denn das hat auch Auswirkungen, ob KandidatInnen aus mittelgrossen Partei(allianz)en ein Chance haben. Das Neue an der Analyse besteht eindeutig in der Bedeutung des Medieneinflusses. Bisher ging man davon aus, dass die Absprachen unter den Parteien alleine das Wahlergebnis determinieren. Nun konnte gezeigt werden, dass die wachsende Aufmerksamkeit der Regionalzeitungen, der Lokalradios, ja selbst des Fernsehens von Belang sind.

Noch fehlt es an einem Modell für zweite Wahlgänge. Doch sind diese in der Regel besser beurteilbar. Denn da spricht die Primärerfahrung dafür, dass die Grösse und Zusammensetzung des Kandidatenfeldes – und damit die Allianzbildungen von Belang sind.

Der studentischen Forschungsarbeit habe ich entnommen, dass Befragungen wenig geeignet sind, um Ständeratswahlen zu verstehen. Denn die WählerInnen-Präferenzen sind nicht der Input ins Wahlergebnis, sie sind modulieren bloss den Output des Wahlgeschehens. Ohne eine vergleichende Analyse der Voraussetzungen, die sich aus den Eigenheiten des Kantons und der KandidatInnen ergeben, wird man auf diesem Feld nicht weiter kommen.

Die fünf Fälle, welche den vier Studierenden noch entschwappen werden helfen, den eingeschlagenen Weg der Forschung zu verfeinern. 2 bis 3 der Abweichungen erscheinen mir unerheblich, denn sie bewegen sind in einem kleinen Rahmen, wenn auch gleich rund um die Schwelle des absoluten Mehrs; mit solchen Ungenauigkeiten wird man auch in Zukunft leben müssen. Indes, die Differenzen zwischen Prognose und Ergebnis sind bei den heutigen Ständeräten Karin Keller-Sutter in St. Gallen und Pascale Bruderer im Aargau erheblich; beide Bewerbungen wurden durch das Modell unterschätzt.

Es kann durchaus sein, dass hier qualitative Ansätze nötig sind, um Kandidaturen präziser bewerten zu können. Die Bundesratsbewerbung von Frau Sutter im St. Gallischen, aber auch der SwissAward für die beste PolitikerIn des Jahres für Frau Bruderer im aargauischen gaben den beiden neuen Stars der Schweizer Politik den Status einer nationalen Heroin, deren Bewerbungen einen eigenen Zusatzwert hatten.

Claude Longchamp