Durchbrüche am Gotthard – und in der Wahlforschung

Am 15. Oktober 2010 um 14 Uhr eine Vorlesung halten zu wollen, ist ganz einfach. Denn just in dem Moment, wo man beginnt, geht die TV-Uebertragung zum Durchbruch am Gotthard in die entscheidende Phase. So tun, wie wenn nichts wäre? Nein, denn heute schauen sich Studierende auf ihren Labtops und iPhones das an, was sie wollen. Besser ist es also, den Durchbruch gleich miteinzubeziehen und zum Thema zu machen.

Schweiz Gotthard Tunnel

Das passte in der heutige Veranstaltung gar nicht so schlecht. Es ging um den Vergleich der beiden wichtigsten Theorien in der Wahlforschung: dem rational-choice-Ansatz einerseits, dem sozialpsychologischen anderseits. Jürger Falter, einer der führenden Wahlforscher in Deutschland, geht davon aus, dass Durchbrüche in diesem Fach dann zu erwarten sind, wenn es gelingt, aus einer Kombiation beider Ansätze ein verbessertes, neues Vorgehen vorzuschlagen.

Zu den wesentlichen Unterschieden beider Ansätze gehört das Menschenbild. RC-Theorie reduizeren den Menschen auf einen Käufer, der Entscheidungen trifft. Er hat klare Präferenzen, die sich aus seinen Interessen ergeben, und er wählt aus den Produkten jenes aus, das diesen am nächsten kommt. Das mag beim Kauf von Gegenständen so sein, bei politischen Entscheidungen ist das wohl zu einfach: Kennt man die Produkte hinreichend, wie das die Theorie annimmt? Und hat man so eindeutige Präferenzen wie unterstellt werden? Vor allem aber, wägt man immer wieder von Neuen ab, wenn man vor der gleichen Kaufentscheidung steht?

Der Mensch der Sozialpsychologie ist anders. Er wird durch die Sozialisation, in Familie, Schule und Medien geprägt. Das geschieht meist in den Jugendjahren intensiv, und das Ergebnis daraus, bleibt bestehen: Nicht ohne Einflüsse auf die Politik, auf grundlegende Ueberzeugungen, geteilte Werte und politische Vorlieben. Ueber Parteien richtet man nicht vor der Wahl aufgrund einer gänzlichen offenen Situation, sondern urteilt man aufgrund von Identifikationen mit ihnen, ihren Programm und Personen meist längerfristig konstant. Doch auch diese Ansatz ist nicht ohne Probleme: Denn stabile Parteiidentifikationen scheinen weltweit zurückzugehen, instabiler, ja multipler zu werden, sodass die verhaltenssteuernde Funktion rückläufig ist, wenn gewählt werden soll. Und je nach Angebot der Parteien kann es auch sein, dass man die Richtung teilt, nicht aber die KandidatInnen, dass man die aktuellen Positionen gut findet, das damit verbunden politische Umfeld aber nicht teilt. Das alles schafft Probleme.

Karl Popper prägte den Begriff, dass das sozialwisssenschaftliche Ansätze Schlaglichter auf die Realität seien. Jeder Ansatz kommt einem Scheinwerfer gleich, der etwas anderes von der Realität ausleuchtet, mehr oder weniger scihtbar macht und damit erklärt resp. bestenfalls Veränderungen auch vorhersieht. Durchbrüche wären demnach zu erwarten, wenn es gelänge, in der Wahlforschung komplexere Menschen- und Gesellschaftbilder zu entwickeln, die uns in einem einen Blick auf die Realitäten bei Wahlen werfen.

RC-Ansätzen ist eigen, dass sie sich um das Thema der Emotionen in der Politik viel zu wenig gekümmert haben. Umgekehrt beschäftigen sich die Ansätze aus der Sozialpsychologie zu wenig mit Fragen der Informationsaufnahme und -verarbeitung und der Folgen, die daraus für Wahlentscheidungen entstehen. Menschliche Einstellungen, könnte man folgern, müssen auf beidem aufbauen, gesellschaftliche Realitäten die Kommunikationsprozess in der Mediengesellschaft miteinbeziehen.

In der kommenden Veranstaltung werden versuchen, auf dieser Basis denkbare Durchbrüche in der Wahlforschung zu diskutieren.

Claude Longchamp