Eine soziologische Diagnose des Konflikts um Minarette

Zwar ist der Soziologe Stefano Allievi in der Schweiz wenig bekannt. Doch kann seine Diagnose zum Konflikt um Moscheen verwendet werden, um das Geschehen rund um die Minarett-Initiative zu deuten.

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Diesen Sommer publizierte Stefano Allievi unter dem Titel “Conflics over Mosques in Europa“, der sowohl auf der verfügbaren soziologischen Literatur hierzu als auch eine Reihe von spezifischen Länderstudie basiert. Drei Vorbemerkungen macht der Experte in seiner Zusammenfassung des praxisorientierten Reports: Erstens, die erwarteten Konflikte rund um Moscheen existieren überall. Zweitens, sie müssen als solche schon mal akzeptiert werden. Und drittens, sie haben Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Form und Verlauf.

Gemeinsamkeiten der länderspezifischen Konflikte
Zu den Gemeinsamkeiten zählt der Soziologe etwa die verbreiteten, feinen Umdeutung von Selbstdefinitionen. So lässt die Präsenz von MuslimInnen in einer Gesellschaft die Zahl ihrer Mitglieder steigen, die sich kulturell als Christen verstehen. Unter ihnen nehmen zudem reaktive Identitäten zu, die Konflikten gegenüber nicht abgeneigt sind. Bevorzugt sind dabei exponierte religiöse Symbole, die sich durch ihre Sichtbarkeit eignen, in die Breite vermittelt zu werden.

Der Disput gegen Minarette ist hierfür typisch – und kennzeichnend für politische Auseinandersetzungen in der Glokalisierung. Denn mit dieser verbinden sich Entwicklungen in globalen Gemeinschaften wie den Weltreligionen mit lokalen Problemen. Ihr Doppelcharakter macht es aber aus, dass man auch ohne viel Anlass schnell überall davon spricht.

In Frankreich, Grossbritannien und Deutschland sieht der Experte die aufgebrochenen Konflikte eher abflauen, während sie bei unserem Nachbar Oesterreich (und wohl auch in der Schweiz) erst im Entstehen begriffen sind. Drei Verallgemeinerungen verbinden sich mit diesen Beobachtungen:

Erstens, die Konflikthaftigkeit kann mit der Integration von Muslimen auf dem nationalen Niveau verringert werden.
Zweitens, die Entscheidungen politischer Unternehmer, die Nutzen aus der Verönderung ziehen wollen, beeinflussen den Integrationsprozess.
Und drittens ist der Zeitfaktor, wie immer wenn es um Integrationsfragen geht, entscheidend. Politische Kampagnen und Legislaturzyklen folgen anderen Gesetzmässigkeiten als Veränderungen in kulturellen Konstellationen, die sich nur schrittweise und nicht immer in die gleiche Richtung verändern.

Ratschläge für den Umgang mit den Konflikten

Sefano Allievi ist eher zurückhaltend, wenn es um Empfehlungen geht. Offensichtlich neigt er aber dazu, Konflikte auszutragen und nicht unterdrückt. Denn die Kritik an Uebertreibungen und Stereotypisierung durch fanatisch Einheimische führe ebenso wenig weiter wie jene an der Negierung von Spannung durch fordende Minderheiten. Damit grenzt sich der Experte von beiden Konflitseiten ab, nicht ohne ihnen ein Angebot zu machen. Denn er rät, auf jeden Fall die Konfliktaustragung begleiten und moderieren zulassen. Seine Hoffnung besteht darin, dass Akteure, die sich auf ein solches Konfliktmanagement einlassen, ihre Ziele und Absichten in Lernprozessen weiterentwickeln, ja ändern können.

Wichtig ist für den Konfliktmanager, ob es Personen mit Leadership gibt – und zwar sowohl bei den muslimischen MigrantInnen wie auch bei den Einheimischen und ihren Behörden. Ihre Aufgabe ist es, eine Elite der Konfliktbewältiguing zu bilden, die in der Lage ist, institutionelle Regeln zu finden, wie verschiedenen Religionen im Alltag mit wechselseitigem Respekt koexistieren können.

Das macht deutlich, dass der italienische Soziologe Stefano Allievi den Islam in Europa als anhaltendes Phänomen in der nahen Zukunft sieht, das jedoch mit seiner Präsenz auf dem Kontinent einem Kulturwandel in Richtung Europäischer Islam unterworfen sein wird.

Claude Longchamp