Wirbel um Brief aus Libyen

Die Medien sind im Besitz einer Abschrift des Briefes, auf den sich Bundespräsident Hans-Rudolf Merz stets berief, als er von einer verbindlichen libyschen Zusicherung in Ausreise der zurückgehaltenen Schweizer Geschäftsleute sprach. Die Interpretationen des Inhalts gehen aber auseinander. Morgen früh nimmt sich die Aussenpolitischen Kommission des Nationalrates der Sache an.

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Medienkonferenz in Tripolis zwischen den Vertragspartnern Libyen und der Schweiz zur Bereinigung der Konflikte zwischen den beiden Ländern

Mehrfach beteuerte Hans-Rudolf Merz nach seiner Rückkehr aus Tripolis, ihm sei vom libyschen Ministerpräsidenten Baghdadi al-Mahmudi mündlich und schriftlich zugesichert worden, die beiden Schweiz Geiseln seien bis Ende Monat wieder in der Schweiz. Gezeigt wurde das entscheidende Dokument der Oeffentlichkeit jedoch nicht. Beschuldigt wurde jedoch Libyen, nicht Wort gehalten zu haben, während dieses von einem Missverständnis schweizerischerseits spricht.

Nun zitiert die Online-Ausgabe der NZZ heute aus dem ominösen Schreiben vom 26. August 2009, in dessen Besitz die Zeitung gelangt ist. Der entscheidende Satz laute (übersetzt): «Ausgehend vom normalen Ablauf der Dinge in ähnlichen Situationen glauben wir, dass ihr Fall sehr bald entschieden sein wird und dass sie vor Ende Monat aus Libyen ausreisen können.»

Die Redaktion titelt in der heiklen Angelegenheit: “Libyens Premier hat von Ausreise der Geiseln gesprochen”. Im Text wird man dann deutlicher: “Eine explizite Zusicherung oder gar Garantie enthält das Dokument aber nicht.” Geri Müller, grüner Präsident der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrates, interpretierte das in “10vor10” im Sinne von Merz als Zusage, während SVP-Hardliner Christoph Mörgeli, ebenfalls Mitglied der Kommission, dazu sagte: “Wenn ich ein Los der Landeslotterie kaufe, glaube ich auch, dass ich den Hauptgewinn habe.”

Der Wirbel ist perfekt. Die Medien kennen einen Brief, den die zuständige Kommission noch nicht gesehen und verarbeitet hat. Zwangläufig schiessen die Interpretationen ins Kraut, geht es doch um die Deutungshoheit. Morgen früh um 7 Uhr berät die Aussenpolitische Kommission des Nationalrates das zentrale Dokument in der Argumentation des glücklosen Bundespräsidenten.

Claude Longchamp