Verrechnungssteuer: Wiederholt sich die Entscheidung bei der Stempelsteuer?

In vier Monaten, am 25. September 2022, stimmt die Schweiz über vier Vorlagen ab. Eine davon ist die Vorlage zur Verrechnungssteuer. Meine erste Auslegeordnung.

Die beantragte Aenderung der Verrechnungssteuer
Bundesrat und Parlament beantragen, die Verrechnungssteuer auf Obligationszinsen abzuschaffen. Damit soll es für AnlegerInnen attraktiver werden, Obligationen im Inland zu handeln. Im Ausland verwaltetes Wertschriftenvermögen und die damit verbundene Wertschöpfung soll in die Schweiz (zurück)geholt werden. Bleiben wird die Verrechnungssteuer auf Zinserträgen aus Guthaben natürlicher Personen im Inland bei Banken und Sparkassen sowie bei Versicherungsunternehmen.
Dagegen hat die SP das Referendum ergriffen. Die Überprüfung der 60’210 mit Stimmrechtsbescheinigung eingereichten Unterschriften durch die Bundeskanzlei hat 59’954 gültige ergeben. Damit kommt es zur Volksentscheidung.
Die Revision des Verrechnungssteuergesetzes passierte beide Räte. Im Nationalrat stimmten 125 VolksvertreterInnen dafür. 70 waren dagegen. Das Ja-Lager rekrutierte sich aus den geschlossen votierenden Parteien SVP, FDP, Mitte und GLP. Die NationalrätInnen von SP und Grünen war ausnahmslos dagegen. Unterstützt wurden sie von jenen der EVP. Das entspricht eine maximalen parteipolitischen Polarisierung.
Hochgerechnet auf die Volksabstimmung lässt das auf ein Zustimmungspotenzial von 59% der Stimmen schliessen. Voraussetzung ist aber, dass es zu einer Stimmabgabe der Parteiwählerschaften im üblichen Masse kommt.

Die wahrscheinlichste Referenzabstimmung
Die wichtigste Referenzabstimmung war am 13. Februar dieses Jahres. Damals lehnten die Stimmenden die Abschaffung der Stempelabgabe mit 62 Prozent Nein-Stimmen ab.
Im Abstimmungskampf setzten sich SVP, FDP, Mitte und GLP für die Abschaffung ein. Dagegen wandten sich SP, Grüne und EVP sowie verschiedene Kleinparteien von links bis rechts.
Die Ja-Seite wurde von allen namhaften Wirtschaftsverbänden unterstützt, die Opponenten von den Gewerkschaften.
Medial blieb das Interesse beschränkt. Dafür warb vor allem LeTemps, dagegen der Blick. Der Rest berichtete meist recht ausgeglichen. Bei der Wochenpresse waren die NZZ am Sonntag und die Weltwoche klar auf der Ja-Seite, der Matin Dimanche und die Sonntagszeitung favorisierten im Nein-Lager. Im Abstimmungskampf profiliert waren der Bundesrat und die Wirtschaftsverbände bei den UnterstützerInnen, die SP und Gewerkschaften bei den OpponentInnen.
Die Trendumfragen legten einheitlich nahe, dass die Nein-Kampagne stärker wirkte. Die Ablehnung stieg in den letzten Wochen je nach Instrument zwischen 7 und 13 Prozentpunkten. Argumentativ sah eine Mehrheit der Stimmenden keine Notwendigkeit für Entlastungen und erwartete, dass Kapitaltransaktionen gleich wie der Konsum behandelt werden.
Die finale Ablehnung fiel räumlich homogen aus. Es zeigten sich keine namhaften sprachregionalen Unterscheide und auch keine Gegensätze zwischen Stadt und Land.
Zwar unterschieden sich die Pole links und rechts erheblich, doch gelang es der Nein-Seite besser, das politische Zentrum mitzuziehen. Sowohl bei der Mitte wie auch bei der GLP stimmten Mehrheiten gegen die Parteimeinung mit Nein. Die Basis dafür war ein verbreitetes Misstrauen in Wirtschaftsverbände. Grossunternehmen und KMU, kombiniert mit dem Willen, der Staat müsse mehr, nicht weniger regeln. Vom Nein-Sog erfasst wurde auch eine Mehrheit der parteiungebunden Stimmenden.
Politologisch gesprochen handelte es sich um einen Globalisierungskonflit mit Opposition von Links. Die Tiefsteuerstrategie scheiterte, weil die Basis der Parteien im Zentrum skeptischer dachte als die Parteieliten.

Der ersten Spuren des Abstimmungskampfes
Der Abstimmungskampf zur Verrechnungssteuer hat mit der definitiven Terminierung der Volksentscheidung eben erst begonnen. Er könnte sehr lange werden, denn die Volksabstimmung ist erst in vier Monaten.
Die geschlossen agierenden bürgerlichen Parteien warteten auch in dieser Frage umgehend mit einer koordinierten Medienmitteilung auf. Kaum aktiv war jetzt schon die Nein-Seite.
In ihrem Argumentarium favorisieren die BefürworterInnen, die bestehende Verrechnungssteuer schwäche unser Land im internationalen Standortwettbewerb. Die Steuer bewirke, dass Schweizer Unternehmen Geld im Ausland statt in der Schweiz beschaffen würden. Mit der Reform erhalte das Land die gleich langen Spiesse wie andere Länder.
Die ihre Widersacher ist die Reform ein Freipass für Steuerkriminelle. Die Verrechnungssteuer sei eine Sicherungssteuer. Der Bundesrat habe das erkannt, doch die Banken- und Finanzlobby habe das im Parlament verhindert. Es sei mit Ausfällen bei den Staatseinnahmen zu rechnen, welche die ehrlichen SteuerzahlerInnen berappen müssten.
Sowohl Konstellation wie auch die Botschaften gleichen denen bei der Stempelsteuer. Analog dazu kann man davon ausgehen, dass erst der Abstimmungskampf entscheidet. Zentral wird die Meinungsbildung an der Basis der Zentrumsparteien Mitte und GLP sowie bei Parteiungebundenen werden.

Womit man rechnen kann
Aktuelle, allgemein zugängliche Umfragen zu Stimmabsichten liegen nicht vor. Sie werden in der Regel erst 50 Tage vor dem Abstimmungstermin gemacht und publiziert.
Eigentlich sicher ist, dass die SVP, FDP, Mitte und GLP die Ja-Parole beschliessen, während die SP, die Grüne und wohl auch die EVP eine Nein-Empfehlung herausgeben werden. Diametral unterschiedlich werden auch die Wirtschaftsverbände und di Gewerkschaften auftreten.
Die Dynamik der Meinungsbildung der Stimmwilligen kann zwei Richtungen annehmen: Im ersten Szenario verteilen sich Unschlüssige auf beide Seite, was dem anfänglich wohl stärkeren Ja-Lager nützt. Es ist mit einem finalen Ja zu rechnen, wie es auch unsere Potenzialschätzung nahelegte. Im zweiten Szenario erodiert die anfängliche Zustimmungsbereitschaft im Abstimmungskampf und ist schliesslich nur minderheitlich. Die Vorlage scheitert analog der Meinungsbildung bei der Stempelsteuer.
Die politisch breite Abstützung spricht für die erste Variante, die Polarisierung zwischen privilegierten Unternehmen und normalen StimmbürgerInnen für die zweite. Ein vertrauensvolles Ja-Kampagnenklima nützt den BefürworterInnen, ein misstrauisches der Gegnerschaft.
Wiederholt sich die Volksentscheidung bei der Stempelsteuer oder nicht? Das ist die massgebliche Frage bei der eidg. Abstimmung über die Verrechnungssteuer. Die Antwort wird das politische Zentrum geben.

Claude Longchamp