Wie sich der Strukturwandel der Oeffentlichkeit in der neuesten VOX-Analyse ausdrückt

Heute erschien die VOX-Analyse zu den Abstimmungen vom 28. November 2021. Das interessanteste Ergebnis betrifft die Meinungsbildung, namentlich beim Covid19Gesetz.

«Wir erleben ein Strukturwandel der Öffentlichkeit. Sie droht in Hunderte Blasen zu zerfallen», diagnostizierte der emeritierte Berner Politologie-Professor Wolf Linder in einem Rückblick auf das zweite Pandemie-Jahr 2021 die Lage der Nation. Die eigentliche Ursache ortet er in der zunehmenden Digitalisierung der Kommunikation, die eine Beschleunigung und Polarisierung gebracht habe. Die Pandemie habe das nur potenziert, deshalb werde der Trend bleiben, selbst wenn Corona einmal überwunden sei.


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Empirische Befunde zur Abstimmung über das Covid19-Gesetz
Neue Nahrung erhält die These durch die aktuelle VOX-Analyse zu den Volksabstimmungen vom 28. November 2021 – für die Bundeskanzlei von gfs.bern erstellt und heute veröffentlicht. Demnach differenziert sich die Auswahl an Kanälen für die Meinungsbildung aus. Das erfolgt nicht beliebig oder nach gesellschaftlichen Gruppen. Vielmehr werden inhaltliche Positionen massgeblich.
Wer beispielsweise bei der zweiten Abstimmung über das Covid-19-Gesetz mit «Ja» abstimmte, nutzte zu 89 Prozent eine der Abstimmungssendungen am Fernsehen. Bei der Gegenseite betrug die Reichweite dagegen gerade einmal 68 Prozent. Ähnliches findet sich bei Artikeln in Zeitungen, Sendungen im Radio und dem Bundesbüchlein, der amtlichen Abstimmungsinformation. Sie wurden durchwegs von den Befürworter:nnen des Covid-19-Gesetzes vermehrt genutzt.
Das Gegenteil zeigt sich am klarsten bei Strassenplakaten, sozialen Medien und Video-Clips auf YouTube. Sie alle wurden von den Nein-Stimmenden um durchschnittlich 15 Prozentpunkte mehr genutzt als von den Ja-Stimmenden. Das gilt, abgeschwächt, auch für Kommentare in Online-Portalen und die Diskussionen am Arbeitsplatz.

Ausdifferenzierung von Sphären der Oeffentlichkeit
Das sind zwar noch keine Belege für die Entstehung von Hunderten von Blasen, wie es Linder formulierte. Aber es zeigt, dass die Öffentlichkeit fragmentiert wird – und zwar entlang klassischer Medien und amtlicher Informationen einerseits, der digitalen Sphäre anderseits. Das wiederum hat mit der Spaltung der öffentlichen Meinung zu tun.
Ob mit der Ausdifferenzierung auch ein Bedeutungsverlust bestimmter Mediengruppen einhergeht, ist noch offen. Das hat primär mit den Reichweiten der Kanäle zu tun. Denn die politische Kommunikation etwa bei Volksabstimmungen bleibt durch die traditionellen Kanäle der Sekundär- und Quartärmedien bestimmt. Nur sie erreichen gesichert mehr als 50 Prozent der Teilnehmenden. Derweil kommen die Quartärmedien auf höchstens die Hälfte.
Das spiegelte sich am 28. November 2021 auch im Abstimmungsergebnis wider. Denn das Covid-19-Gesetz wurde mit 62 Prozent Ja-Stimmen angenommen. Der mainstream bleibt klassisch, die Herausforderung kommt aber aus den online-Medien.

Ueberhöhung der digital erzeugten Stimmung in klassischen Medien
Noch besser beobachtbar war der Strukturwandel der Öffentlichkeit im Abstimmungskampf selber. Denn der erhielt namentlich mit sozialen Medien einen eigentlichen Verstärker. Sie überhöhten den gesellschaftlichen Druck, der sich auf der Strasse manifestiert hatte. Und sie beeinflussten auch Teil der Medienberichterstattung. Die war, wie die fög-Untersuchung des Abstimmungskampfes ergab, bei der Weltwoche und ähnlichen Gefässen klar der FallA. aber auch bei Sonntags- und Boulevardmedien konnte man das beobachten.
Am Schluss waren viele überrascht, dass die Bürger:innen eine klare Mehrheitsentscheidung gefällt hatten. Denn viele Beobachter:innen nahmen die Mobilisierung der Gegenseite namentlich durch digitale Medien wahr, übersahen dabei aber eine namhafte Gegenmobilisierung beim Elektorat, das medial klassisch eingebunden bleibt.
Auf jeden Fall sollte man die hier gut dokumentierte Fragmentierung der Öffentlichkeit zukünftig genauer und vertieft untersuchen – bei Volksabstimmungen und polarisierenden Themen darüber hinaus.

Claude Longchamp, Politikwissenschafter