Was die SP Schweiz mit Blick auf die Wahlen 2023 braucht

Ist der SP die Arbeiterklasse abhanden gekommen? Das fragen Tarik Abou-Chadi (ZdA Aarau), Reto Mitteregger (Universität Zürich) und Cas Mudde (Universität Georgia, USA), durchwegs anerkannte Forscher, Lehrer und Autoren, in einer neuen Schrift für die deutsche Friedrich-Ebert-Stiftung. Ich habe sie für das SP-nahe Magazin “Links”, das heute erscheint, auf die Frage hin gelesen, was aus den europäischen Erkenntnissen auf die Schweiz anwendbar ist.

Was der Bericht über die europäischen SPs weiss
Unbestritten ist für die drei Wissenschaftler, dass die SD-Parteien in zahlreichen westlichen Ländern Wahlen verloren haben. Gleichzeitig haben rechtsradikale Parteien einen bisher nicht bekannten Aufschwung erlebt. Beides zusammen hat zu einer medial dominanten Erklärung geführt. Demnach hat die SP ihre traditionelle Arbeiterschaft an die neuen Rechtsparteien verloren.
Genau das relativiert der Bericht. Bestätigen können die Politikwissenschaftler eigentlich nur, dass die Arbeiterschaft kein monolithischer Block mehr ist. Vielmehr ist er kleiner und vielfältiger geworden. Insbesondere sind Menschen mit Migrationshintergrund dazu gekommen, und stark gewachsen ist auch die weibliche Arbeiterschaft in Dienstleistungsberufen.

Auf solche Veränderungen haben die nationalen sozialdemokratischen Parteien unterschiedlich reagiert:
• Beispielsweise mit einer linksnationalistischen Strategie, sichtbar ausgedrückt durch eine restriktive Zuwanderungspolitik wie in Dänemark.
• Beispielsweise mit einer zentristischen Strategie in wirtschaftlichen und kulturellen Themen, um regierungsfähig zu bleiben oder zu werden, wie etwa in Deutschland oder Österreich.
• Beispielsweise auch mit einer klar linken Strategie, die Positionen der meist gewerkschaftlichen Linken mit jenen der neuen Linken in den sozialen Bewegungen kombiniert. Etwa so wie in der Schweiz.
Die Autoren fackeln im Fazit nicht lange: Mögen die beiden ersten Strategien beschränkt enttäuschte Wechselwählende ansprechen, erzeugen sie neue Probleme, etwas bei gut gebildeten Fachkräften oder jungen Wählenden. Sie stärken nur Linke und Grüne in einer diversifizierten linke Parteienlandschaft. Deshalb empfehlen die Politikwissenchafter die dritte Strategie mit klar etatistischen Positionen für Wirtschaft und Gesellschaft und einer Identitätspolitik, die soziale Bewegungen einbindet.

Was das für die SP Schweiz heisst
Bezogen auf die Schweiz wirkt der Bericht etwas zu schematisch. Die Schweizer Arbeiter:innenschaft ist schon längst durch Arbeitende ohne Schweizer Pass und ohne politische Rechte verdrängt worden. Zudem geht es hier auch weniger um den Griff nach der Macht bei Wahlen, mehr um die Positionierung in der vielfältigen direkten Demokratie.
Das gleicht aus: Die SP kannte keinen Einbruch wie verschiedene Schwesterparteien. Es gibt aber auch keine Höhenflüge durch Wahlhoffnungen bedingt. Deshalb spielen Strategiefragen eine untergeordnete Rolle.
Doch kündigen sich auch hier die nächsten nationalen Wahlen an. Und sie verheissen für die SP vorerst wenig Gutes. Ihr unbedingtes Ziel muss sein, aus dem historischen Tief von 2019 herauszukommen. Weder kantonale Wahlergebnisse noch das neueste Wahlbarometer legen das nahe. Hauptgründe sind Mobilisierungsschwächen speziell bei Männern und thematische Konkurrenz durch grüne Parteien links und in der Mitte, welche namentlich jüngere Wählende besser ansprechen.
Naheliegender Ausgangspunkt ist der Verteilkampf um staatliche Mittel, der schärfer geworden ist. Er könnte zu einem der Hauptthemen der zweiten Hälfte der Legislatur werden.
Überblickt man die zwei pandemiegeprägten Jahre seit den Wahlen 2019, drängen sich mindestens zwei Schlüsse auf: Erstens hat Corona gezeigt, wie wichtig solidarisches Handeln ist, aber auch, dass gegenüber staatlicher Aktivität Distanz quer zur politischen Landschaft besteht. Zweitens machen die neuesten Volksabstimmungen machen deutlich, dass hierzulande konkrete Reformen wie der Vaterschaftsurlaub oder die «Ehe für alle» Mehrheiten finden können. Für die SP entscheidend dürfte sein, ob es bei der Pflegeinitiative für ein Ja reicht. Das könnte die Ausgangslage für 2023 neu definieren!

Fazit
Grünen Parteien die Themenarbeit nicht zu überlassen und reformorientierte Fachkräfte selber anzusprechen, halte ich für nachahmenswerte Empfehlungen des Berichts aus der Friedrich-Ebert- Stiftung. Abstrakte Strategieüberlegungen aus europäischer Sicht sind meines Erachtens weniger hilfreich.

Claude Longchamp, Politikwissenschaftler, Bern

Passendes Video der Friedrich Ebert Stiftung