Nutzniesser des Ständemehrs sind weder ausschliesslich katholisch noch bevölkerungsarm

4 Mal kollidierte in den letzten 3 Jahrzehnten das Stände- mit dem Volksmehr. Davon profitieren nicht alle Kanton gleich häufig. Vielmehr nützt es den konservativen Kantonen. Analyse.


Grafik Michelle Huber, Daten BfS

In einem Bundesstaat wie der Schweiz ist das doppelte Mehr durchaus gewollt. Denn die Zustimmung der Gliedstaaten wird gleich hoch gewichtet wie das Mehr der Stimmenden. Seinen Ursprung hat dieses Prinzip in der Bundesstaatsgründung. Damals diente es der Integration der katholisch-konservativen Kantone, die im Sonderbundskrieg unterlegen waren. Doch das ist über 170 Jahre her.

Eine Auswertung der heutigen Funktionsweise zeigt, dass durchaus nicht nur die kleinen und katholischen Kantone vom Ständemehr profitieren. Denn auch St. Gallen und Aargau, beide bei der Bevölkerungszahl unter den «big five», gehören zu den Kanton, die damit erfolgreich Mehrheitsentscheidungen verhindern können:

11 Kantone gehörten bei den berücksichtigten 4 Fällen stets zur Mehrheit der Gliedstaaten, die dank dem Ständemehr den Ausschlag in der Abstimmung gaben. Namentlich waren dies Aargau, Appenzell Innerrhoden, Appenzell Ausserrhoden, Glarus, Luzern, Nidwalden, Obwalden, St. Gallen, Schaffhausen, Schwyz, Thurgau und Uri.
Häufig dazu gehörten Graubünden, Solothurn und Zug.
Ausnahmsweise der Fall war dies in Bern, Basellandschaft und Tessin und Wallis.
Nie blockieren konnten auf diese Art und Weise die Kantone Baselstadt, Freiburg, Genf, Jura, Neuenburg, Waadt und Zürich.

Das Ständemehr nützt heute nicht mehr der konfessionellen Integration. Es dient den konservativen Kantonen als Bremse. Präventiv in der Gesetzgebung, aber auch im Moment der Volksabstimmung.
Mit zwei kleine Ausnahmen kommen die Nutzniesser alle aus der deutschsprachigen Schweiz. Der ursprünglich konfessionelle Minderheitenschutz wendet sich damit überwiegend heute gegen die sprachlichen Minderheitenschutz.

Die PolitologInnen Rahel Freiburghaus und Adrian Vatter gehen noch weiter. Sie kritisieren in einem Bericht, der vor Wochenfrist in “Die Volkswirtschaft” erschienen ist, die Ausnutzung des Ständemehrs in Abstimmungskämpfen. O-Ton: „Veränderungsunwilligen Kräften, die sich gegen progressiven Verfassungswandel stemmen, dient das Ständemehr als willkommene Kampagnenhilfe. Wohl wissend um die zunehmende Blockademacht des Ständemehrs, konzentrierte etwa der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse seine Ressourcen wiederholt auf mathematisch auserkorene «Fokus-Kantone», wo sich ein massgeschneiderter Mitteleinsatz überdurchschnittlich lohnt. Kippen jene «swing cantons», kippt die missliebige Vorlage als Ganzes.“