Warum das Stimm- und Wahlrechtsalter gesenkt werden soll!

Meine Rede am Demokratiefestival, 13. September 2019 in Basel

Es gilt das gesprochene Wort!

Einleitung
Der US-Philosoph Tom Nichols fordert Stimmrechtsalter 50. Jüngere seien vermehrt links, hätten keine Immobilien und wüssten nichts von Aussenpolitik. Besser als Wählen sei es als junger Mensch, Lebenserfahrungen zu sammeln. Die ganz Alten wiederum könnten nur noch zwei-, dreimal wählen, dann sei Schluss. Deshalb sei es richtig, sie zu privilegieren.
Greta Thunbergs Mutter sieht das in ihrem ersten Buch ganz anders. Ihre beiden Töchter hätten Aussichten, 100 Jahre alt zu werden. Sie müssten sich damit auseinandersetzen, zu Beginn des 22. Jahrhunderts (!) noch zu leben. Niemand könnte garantieren, was dann sei, doch sei Skepsis angebracht. Genau deshalb müsse sich die Generation ihrer Kinder für den Erhalt der natürlichen Lebensbedingungen einsetzen.

Was ist das richtige Wahl- und Stimmrechtsalter?
Wer beim Wahlrechtsalter eine ganz fortschrittliche Lösung will, verlangt Wahlrechtsalter 0. Mehr geht nicht! Doch geht auch das nicht. Denn es ist ohne Stellvertretungen der Kinder nicht zu lösen, und am demokratischen Grundsatz, dass ein Mensch nur eine Stimme hat, sollte man nicht vorschnell rütteln.
Wählen, in der Schweiz und einigen weiteren Ländern auch abstimmen, setzt die Fähigkeit voraus, Verantwortung für andere, auch ausserhalb des Familienkreise übernehmen zu können.
Weltweit dreht sich die politische Diskussion zum unteren Wahlrechtsalter rund um die 16-Jahr-Marke. Das ist seit einiger Zeit auch in der Schweiz so.
Utopisch? Nein! In kantonalen Fragen können die Glarner und Glarnerinnen mit 16 politisch mitbestimmen. Der kleine Kanton ging hierzulande als erster dazu über, und er ist dabei nicht untergegangen.
Ich denke, wir alle sollten Glarnerinnen und Glarner werden.

Was die Sozialwissenschaft zum politischen Bewusstsein weiss
Politisches Bewusstsein entwickelt sich mit der politischen Sozialisation. Bei den einen beginnt dies mit zwölf Jahren, bei andern findet es erst mit 25 statt.
Vorentscheidend ist die Familie. Wächst man in einem politischen Haushalt auf, besteht meist kein Problem. Doch ist das in einem unpolitischen Haushalt definitiv anders. Individuell gesehen ist die Schulbildung massgeblich: Je höher der Schulabschluss, desto ausgeprägter sind das politische Interesse und die politische Beteiligung an Wahlen und Abstimmungen. Hinzu kommt mit Freunden und Kolleginnen das persönliche Umfeld.
Doch sind das nur strukturelle Erklärungen. Politisches Interesse entsteht gerade bei jungen Menschen mit grosse Ereignisse, die ganze politische Generationen formen: Kriege, Friedensbewegungen, der Ein- und Austritt aus der EU!
Die Schülertreik-Bewegung zeigt heute, was das heisst. Nichts hat die Schweiz der letzten 12 Monaten so verändert. Bis zu 50’000 oder 70’000 Schüler und Schülerinnen gingen diesen Frühling miteinander auf die Strasse, um für eine neue Klimapolitik zu demonstrieren. Viele liessen dafür sogar die Schule aus. Andere nahmen auch ihre Eltern mit.
Damit wollte man gerade auch im Wahljahr zeigen, dass es nicht so weiter gehen kann wie bisher. Die Botschaft ist angekommen. Praktisch alle Parteien mussten sich zu diesem Thema äussern. Die einen taten es fast ungefragt, denn es gehört zu ihrer Weltanschauung. Weitere lernten der Not gehorchend hinzu. Nochmals andere behaupten bis heute: «Alles erfunden, um Wahlen zu gewinnen!».
Was hat das mit unserem Thema zu tun? Vor allem Mediensoziologen glauben an eine stille Revolution. Neil Postman war vor vierzig Jahren überzeugt, dass die wachsende Mediendurchdringung der Gesellschaft die Jugend verdrängen werde, die mit dem Buch für die Erwachsenen entstanden sei. Beim TV war er skeptisch, beim Computer weniger. So sprach er sich dafür aus, von jungen Erwachsene zwischen 12 und 25 Jahren zu sprechen, mit ihren eigenen Medien.
Politisches Bewusstsein entstehe heute namentlich über den Konsum sozialer Medien bei jungen Erwachsenen immer heute früher, sagt der deutsche Soziologe Klaus Hurrelmann. Immer jüngere sind bereit politisch handeln, wenn es sie betrifft.

Chancen des Wahlrechtsalters 16
Die Senkung auf das Wahlrechtalter 16 ist keine Lösung für alle Probleme der heutigen Demokratien, aber auch kein undemokratischer Akt.
Österreich hat es vorgemacht: Unser Nachbar ist vor 10 Jahren zum Wahlrecht mit 16 übergegangen. Eine kürzlich publizierte Evaluierung kommt zum Schluss: Kurzfristig liess die Wahlrechtssenkung die Wahlbeteiligung junger Menschen steigen. Der Effekt hat sich seither normalisiert. Allerding mit einer Folge: Menschen, die mit 16 das Wahlrecht bekamen, beteiligen sich stärker als solche, die es erst mit 18 wählen durften. Hauptgrund: Wer sich in jungen Jahren ernst genommen fühlte, wird dadurch geprägt, was bleib.
Das gilt auch umgekehrt: Wer dachte, in jungen Jahren nicht für voll genommen worden zu sein, vergisst das nicht so schnell und bleibt häufiger distanziert.
Für mich gibt es in der Schweiz ein weit entscheidendes Argument. Die Wahl- und Stimmberechtigten altern, rasanter als an den meisten anderen Orten.
Die Befürworter einer Rentenaltererhöhung werden nicht müde, die Alterung der Schweizer Gesellschaft hervorzuheben. Ihre Analysen kann man aber auch dafür verwenden, eine Senkung des Stimmrechtsalter zu begründen.
Der Medianwählende ist in unserem Land ist heute 57 Jahre alt. Das heisst, es nehmen gleich viele teil, die unter wie über 57 sind. 2023 wird die Medianwählende ein Jahr älter sein, 2027 nochmals ein Jahr. Und so fort!
Die Senkung des Stimm- und Wahlrechtsalters in der Schweiz ist eine der Gegenmassnahmen dazu, – eine moderate übrigens!
Es geht darum, dass die Alterspyramide der politischen Entscheidenden etwas weniger aus dem Lot gerät.

Was Sie mit auf den Weg nehmen sollten!
Als ich 1991 für das Stimmrechtsalter 18 warb, nutzte ich folgendes Bild: Stellen Sie sich einen Baum vor, der 60 Jahre alt ist. Nun denken Sie an einen Baum, der 62 Jahre alt ist. Wie sicher sind Sie, dass Sie einen Unterschied sehen? Die meisten antworten mit «unsicher» – zurecht, denn erst wenn Sie die Bäume gefällt und die Jahrringe gezählt haben, können Sie mit Sicherheit sagen, welches der 60-Jährige und welches der 62-Jährige war. 28 Jahre später kann man die gleiche Analogie machen, denn auch 62- und 64-jährige Bäume unterschieden sich äusserlich kaum.
Nun können Sie die Jahrringe mit den Jahrgängen der Stimmenden ersetzen. Stimmen und Wählen ist in der Schweiz bis zu einem Alter von 80 Jahren verbreitet. Wenn man mit 20 erstmals darf, sind das 60 Jahrgänge. Wenn man das Eintrittsalter auf 18 oder 16 verringert, macht das äusserlich nicht viel aus.
Ich lerne daraus dreierlei:
Erstens, die Senkung des Stimm- und Wahlrechtsalters ist individuell nicht folgenlos. Es teilt namentlich politisch früher bewussten Menschen mit, ob man sie ernst nimmt oder nicht.
Zweitens, das Wahl- und Stimmrecht zu senken, bedeutet, zur Alterung der Gesellschaft, ein Gegengewicht zu schaffen.
Und drittens, die Folgen aufs Ganze sind recht gering. Am wichtigsten ist, dass die Wahl- und Stimmberechtigten repräsentativer zusammengesetzt sind.
Eines füge ich zum Schluss bei: Erinnern Sie sich an meinen Baumvergleich, aber fällen sie deswegen bitte keine Bäume!