Wie der Volkswille in Demokratie gesichert werden muss. (2. Vorlesung zu “Wahlforschung in Theorie und Praxis”)

In meiner zweiten Vorlesung «Wahlforschung in Theorie und Praxis» am Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich werde ich mich morgen mit der Bildung des Volkswillens beschäftigen und der Frage nachgehen, wie er institutionell im Sinne der liberalen Demokratie sinnvoll gesichert werden kann.

yascha

Bis weit ins 20. Jahrhundert ging man davon aus, dass man Demokratie und Wahlen gleichsetzen konnte. Wo Wahlen stattfanden, war Demokratie.
Mit dem Wachstum an Demokratien nach dem Fall der Sowjetunion kamen immer mehr Zweifel auf. Wahlen müssen frei und fair sein, dass heisst auf dem allgemeinen Erwachsenenwahlrecht basieren, die Stimmabgabe muss anonym sein und die abgegebenen Stimmen müssen gleich gezählt werden. Das ist die minimale Anforderung an eine Wahldemokratie.
Doch reicht das heute nicht mehr. Demokratie im umfassenden Sinne umfasst fünf Regimes: freie und faire Wahlen, ausgebaute Bürgerpartizipation, solide Bürgerrechte, funktionierende Gewaltenteilung und eine Regierung, die sich friedlich durchsetzen kann. Ist dies erfüllt, spricht man von einer eingebetteten Demokratie, ohne das von einer mehr oder minder defekten Demokratie.
Der Volkswille muss sich demnach in Wahlen oder Abstimmungen mit demokratischen Rahmenbedingungen ausdrücken. Er muss aber auch institutionell soweit gesichert werden, dass auch die Herrschaft demokratisch ist und bleibt. Konkret hat man hierzu zwei Formen repräsentativer Demokratie (präsidentielle und parlamentarische) und eine Form der direkten Demokratie (mit Schweizer Ursprung) entwickelt.

Den vielfältigen Diskussionsstand hierzu hat der Schweizer Politikwissenschafter Hanspeter Kriesi mit dem NCCR Democracy an der Universität Zürich erarbeitet und mit seinem Buch “Herausforderung Demokratie” anschaulich dokumentiert. Die aktuelle Debatte zur fortschreitenden Krise Demokratie bewegt sich heute zwischen den Gegensatzpaaren der liberalen resp. illiberalen Demokratie. Die liberale Demokratie paart Wahlen (und Abstimmungen) mit verfassungsmässig geschützten Bürgerrechten. Illiberale Demokratie verabsolutieren einen der beiden Bestandteile: Entweder beschränken sie sich auf Wahlen mit Mehrheitsentscheidungen, aber ohne Bürgerrechte und Gewaltenteilung. Kritisiert wird, dass sie zur Tyrannei der Mehrheit verkommen und populistischen Charakter haben. Oder sie halten die verfassungsmässigen Freiheitsrechte hoch, verteidigen diese aber nicht mehr durch Volkswahlen. Hier spricht man von technokratischen Regimes mit eingeschränkter Legitimation.
Illiberale Demokratie der ersten Art finden sich heute selber im EU-Raum, so in Ungarn oder Polen. Im asiatischen Raum kommen sie gehäuft vor. Auch der zweite Typ wird häufig auch postdemokratisch bezeichnet. Auch er kommt im EU-Raum vor. Namentlich Italien mit der Regierung Monti der parteilosen Fachleute zählte dazu.

Die für mich produktivste Debatte rund um den Zustand der Demokratie im Westen findet sich gegenwärtig bei Yascha Mounk, Dozent für politische Theorie an der Harvard University. Er identifiziert drei Ursachen für den fortschreitenden Niedergang an Demokratien: das Ausbleiben von Wirtschaftswachstum verbunden mit anhaltender Arbeitslosigkeit, die Blockade der politischen Willensbildung in multiethnischen Gesellschaften und die Beschleunigung der öffentlichen Meinung durch soziale Medien. Ein typischer Vertreter, der demokratische Wahlen zurückbinden möchte, ist der Philosoph Jason Brennan, der sich für die Herrschaft informierter Eliten ausspricht und damit viel Widerspruch geerntet hat. Derweil gilt der Historiker Timothy Snyder als der Warner vor dem totalitäre Staat, der heute mit neuen Ueberwachungsmöglichkeiten daher kommt. Er ruft zum persönlichen Einstehen zugunsten demokratieschützender Institutionen auf. Und er hat viele LeserInnen für sein jüngsten Buch gefunden.

Claude Longchamp

Literatur
Hanspeter Kriesi, Lars Müller: Herausforderung Demokratie. Herausgegeben am NCCR Democracy. Zürich 2013
Y. Mounk: Der Zerfall der Demokratie – Wie der Populismus den Rechtsstaat bedroht, 2018.
Jason Brennan: Gegen Demokratie. Warum wir die Politik nicht den Unvernünftigen überlassen dürfen. Berlin 2017.
Timothy Snyder: Ueber Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand, München 2017 (4. Auflage).