Was die Twittosphäre vor Abstimmungen zeigt – und was nicht

Um es gleich zu Beginn zu sagen: Ich bin überzeugt, dass man mit Twitter nicht sinnvolle Abstimmungsvorhersagen machen kann. Die Population ist zu einseitig. Für die Bestimmung von Trends unter Twitter-NutzerInnen eignet sich die automatisierte Kampagnenbeobachtung via socialmedia jedoch bestens.

SSPM Vote Prediction heisst das kürzlich vorgestellte Tool, das mich hier interessiert. Entwickelt wurde es vom Master-Studenten Jacky Casas am HumanTechInstitute der Fachhochschule Freiburg. Ziel des Technikprojektes ist es, möglichst automatisiert aufzeigen, wie sich die Intensität und Tendenz der Beiträge zu Volksabstimmungen entwickelt.

Tendenzen unter Twitterakteuren
Zu den kürzlich vorgestellten Hauptergebnissen zählen:
75 Prozent der Tweets sind für die Asylgesetzrevision.
71 Prozent sind für das neue Fortpflanzungsmedizingesetz.
83 Prozent sind gegen die Volksinitiative für eine faire Verkehrsfinanzierung
78 Prozent sind gegen die ServicePublic-Initiative.
72 Prozent sind für die Volksinitiative zum Bedingungslosen Grundeinkommen.

twitterbge
Grafik anclicken, um sie zu vergrössern

Vor allem fällt die diametral unterschiedliche Einschätzung bei bedingungslosen Grundeinkommen auf. Keine der repräsentativen Umfragen, aber auch keine Online-Erhebung geht in dieser Frage von einer Zustimmungsmehrheit aus. Die aktuellen Ja-Werte reichen von 26 bis 45 Prozent. Das hat vor allem mit dem Medium zu tun. Auf Twitter sind nicht einfach Bürger und Bürgerinnen; vielmehr handelt es sich um medialisierte politische Akteure. Gemessen wird mit diesem Tool, was Menschen, aber auch Organisationen und wohl auch Bots kommunizieren, ganz unabhängig davon, ob sie ein Wahlrecht haben oder nicht resp. stimmen gehen werden oder nicht. Zudem wird unsere Wahrnehmung durch die Reichweiten der Accounts bestimmt. Denn es kann sein, dass eine Seite über wenig, aber potente Schlüsselstellen der Distribution oder Multiplikation verfügt, womit sie schnell mehr auffallen kann als andere.

Uebersicht statt Tunnelblick

Zu den Stärken des neuen Instruments zählt, objektiviert zu erfahren, was auf Twitter insgesamt läuft – beispielsweise in den Sprachregionen. Nur wenige kennen die Trends nach Landesteilen oder Sprachen. Genau dieser Tunnelblick verstellt den Blick aufs Ganze erheblich. So befassten sich 49 Prozent aller abstimmungsbezogener Tweets auf französisch mit dem bedingungslosen Grundeinkommen. In der italienischsprachigen Schweiz waren es 44 Prozent, in der deutschsprachigen aber nur 19 Prozent. Da waren Asyl und Verkehrsfragen vor der Abstimmung viel wichtiger.
In der deutschsprachigen Schweiz lagen die BefürworterInnen des Grundeinkommens von Beginn weg vorne, und sie gaben die Führung an keinem Tag ab. Das war in der Suisse romande anders. Erst an 7. Mai hatte die Ja-Seite erstmals die Nase vor, verlor sie vorübergehend auch wieder, um erst am 2. Juni die Führung wieder an sich reissen zu können.
Für mich ganz erhellend ist, dass nur die allererste Tamedia-Umfrage einen Einfluss auf die Twittertrends hatte. Sie zeigte eine Nein-Mehrheit, und in der Folge nahmen Tweet mit kritischer Tendenz eine Weile lang zu. Danach wurden die Meinungstendenzen der Twitterakteure durch Umfragen nicht mehr beeinflusst, denn sie trafen aber auf ein bereits prädisponiertes Umfeld.

twitterbge4
Grafik anclicken, um sie zu vergrössern

Marketingstrategie der Komitees entscheidend
Selber beschäftige ich mich seit längerem mit der Twittosphäre als Fenster zu Meinungsbildung. Dabei habe ich gelernt, dass die Marketingstrategien von Abstimmungskomitees entscheidend sind, was man via Twitter erfährt. Denn sie können ganz auf das Medium verzichten, oder es zu einem Hauptkanal ihrer Aktivitäten machen. Letzteres hat mit den Zielgruppen zu tun, die man vor Augen hat. Massgeblich ist auch das verfügbare Budget. Denn socialmedia ist definitiv günstiger als klassische Werbekampagnen. Diese folgen zudem der Logik, dass steter Tropfen den Stein höhlt, während event-orientierte Kampagnen zurecht auf kurzlebige Kanäle wie Twitter setzen.
Beim Grundeinkommen dürfte auf der Ja-Seite mitgespielt haben, dass man in den klassischen Medienkanälen von Beginn weg mit der Finanzierungsfrage konfrontiert war. Eine Grundsatzdiskussion jenseits dieses mainstream erschien da via Twitter einfacher. Zudem war die kommende Generation Arbeitender offensichtlich eine zentrale Zielgruppe, und über Internet recht einfach erreichbar. Schliesslich setzt man wie kaum ein anderes Komitee auf gut sichtbare Aktionen, die sich via Twitter und ähnlichem gut vor- und nachbereiten lassen.
Nicht übersehen darf man dabei: Die so aufgebautem Wirklichkeiten müssen mit der Realität nicht übereinstimmen.

Claude Longchamp