Worüber wir am 5. Juni 2016 abstimmen (5): die Milchkuh-Initiative

Verkehrsfragen ist eigen, dass sie nahe am Alltag sind: Staus und Steuern sind da zwei bekannte Reizthemen. Am 5. Juni steht die Volksinitiative für eine faire Verkehrsfinanzierung zur Entscheidung an. Unterstützung findet sie von rechts. Rotgrün ist dagegen. Entscheiden wird das politische Zentrum.

Das Anliegen
Die Kontroverse begann schon mit der Titelwahl. Anknüpfend an eine populäre Vorstellung unter Autofahrern, von allen Verkehrsteilnehmern finanziell am meisten geschröpft zu werden, nannten die Initianten ihr Anliegen zu Beginn “Milchkuh”-Initiative. Die Bundeskanzlei wollte den Titel nicht zulassen, weshalb man das Begehren für den Abstimmungskampf in Initiative “für eine faire Verkehrsfinanzierung” umtaufen musste.
Materiell wird gefordert, den Reinertrag der Mineralölsteuer sowie der Nationalstrassenabgabe ausschliesslich für den Strassenverkehr zu verwenden. Gegenwärtig fliessen 1,5 Milliarden Franken oder die Hälfte der spezifischen Einnahmen in die allgemeine Bundeskasse. Zudem soll ein fakultatives Referendum für Entscheidungen zur Strassenfinanzierung eingeführt werden.
Das 27köpfige Initiativkomitee setzt sich aus Politikern des rechtsbürgerlichen Lagers zusammen. Hinzu kommen Vertreter der Automobilverbände resp. des Gewerbeverbandes.
Der Nationalrat lehnte die Vorlage mit 66:123 Stimmen ab, der Ständerat mit 10:26 Stimmen. Die Unterstützung stammte weitgehend aus Kreisen der SVP und der FDP, während die Politikerinnen der Mitte/Links-Parteien überwiegend dagegen votierten.
Zudem hat sich der Ständerat kurz vor dem beginnenden Abstimmungskampf zwischen die Fronten gesetzt und einen indirekten Gegenvorschlag eingebracht, der dem Strassenverkehr etwa halb so viele Mehreinnahmen bringt, die Einführung aber nach hinten verschiebt. Die Folgen für die Bundeskasse erscheinen so verkraftbar.
Der Bundesrat, vertreten durch Finanzminister Ueli Maurer, lehnt die Vorlage mit der Begründung ab, eine generelle Zweckbindung für Steuern und Abgaben würde andere Anspruchsgruppen auf den Plan bringen und die verfügbaren öffentlichen Einnahmen verringern.
Die Parteiparolen werden eben erst gefasst. Erwartet wird ein Ja der SVP, während SP, CVP, GPS und GLP dagegen sein dürften. Bereits entschieden haben sich die EVP und die BDP; beide Parteien sind auf der Nein-Seite. Am schwierigsten einzuschätzen ist die FDP. Sie ist im Initiativkomitee prominent vertreten, doch äusseren sich ebenso gewichtige Teile ihrer Politiker auch auf der gegnerischen Seite. Für die Initiative ausgesprochen haben sich die Jungfreisinnigen.

Typologie der Meinungsbildung
Das Umfeld für Volksabstimmungen zu Verkehrsvorlagen hat sich verändert. Ökologische Bedenken namentlich gegenüber dem Individualverkehr haben sich verringert. Zudem besteht manchenorts der Eindruck, nach zahlreichen grossen Paketen zugunsten des öffentlichen Verkehrs seien nun die Verkehrsteilnehmer auf der Strasse an der Reihe. Der Verkehrsmonitor von Auto Schweiz zeigte 2015, dass Forderungen, wonach jeder Verkehrsteilnehmer seine Verkehrskosten selber tragen soll resp. Quersubventionierungen unterbunden werden sollen, grundsätzlich mehrheitsfähig (geworden) sind.
Wir klassieren die Initiative für eine faire Verkehrsfinanzierung deshalb als potenziell mehrheitsfähig. In der Ausgangslage ist eine zustimmende Mehrheit unter den Stimmwilligen möglich. Im Abstimmungskampf kann es dennoch zu einem Meinungswandel hin zum Nein kommen, namentlich wenn die Folgen der Vorlage für die Finanzpolitik zum Hauptthema werden.

Bisheriger Abstimmungskampf
Im bisherigen Abstimmungskampf ist die Entscheidung über die Milchkuh-Initiative eine der Leadvorlagen. Materiell geht es um viel; die Akteure sind relevant, und der Ausgang ist unsicher.
Die Initianten starteten frühzeitig in den Abstimmungskampf. Sie betonen, dass es nötig sei, auf den Strassen sicher und flüssig vorwärts zu kommen. Die Staus in den Agglomerationen müssten mit mehr Strassen entschärft werden. Das nötige Geld dazu sei vorhanden, wenn es nicht zweckentfremdet eingesetzt werde. Zudem müssten die Strassenbenützer bessere Mitsprache zu Fragen der künftigen Verkehrsfinanzierung haben.
Die Gegnerschaft, koordiniert durch den VCS, argumentiert vor allem mit den neuen Lasten für die Allgemeinheit, so für den öffentlichen Verkehr, das Bildungswesen oder die Landwirtschaft. Sie befürchtet, ein Strassenausbau bringe mehr motorisierten Verkehr und damit mehr Verschmutzung der Luft resp. Asphaltierung der Landschaften mit sich.

Referenzabstimmungen

Am ehesten kann man den Gegenvorschlag zur Avanti-Initiative als Vergleichsabstimmung heranziehen. 2004 lehnten 62,3 Prozent der Stimmenden und sämtliche Kantone die damalige Vorlage ab. Relevante Konfliktlinien waren der Autobesitz, die Parteiaffinitäten und die Präferenz für Umweltschutz vor Wirtschaftswachstum. Mehrheitlich dafür waren intensive Autobenützer und die Anhängerschaften von SVP und FDP. Vermehrt, aber nicht mehrheitlich dafür waren auch höhere Einkommensklassen, ältere Menschen und Männer.
Motivmässig dominierten die Staubekämpfung, eine 2. Gotthardröhre und Mehreinnahmen für den Agglomerationsverkehr auf der Ja-Seite, während neue Belastungen durch ein steigendes Verkehrsaufkommen auf der Nein-Seite entscheidend waren.
Die SRG-Befragungen vor der Entscheidung legten nahe, dass das Vorhaben zu keinem Zeitpunkt mehrheitsfähig war, mit dem Abstimmungskampf an Zustimmung auch verlor.
Gewarnt sei vor direkten Übertragungen. Denn das Umfeld für Verkehrsvorlagen hat sich seit 2004 wie beschrieben verändert. Typisch hierfür war die Entscheidung über die 2. Gotthard-Röhre am 28. Februar 2016. Was vor zehn Jahren noch fast undenkbar war, schaffte 2016 die Mehrheit. Denn 57 Prozent votierten für den Ausbau des Strassenverkehrs durch die Alpen, insbesondere um die Sanierung des bisherigen Strassentunnels vorbringen zu können. Allerdings, bei der Milchkuh-Initiative handelt es sich nicht um eine Behördenvorlage, sondern ein Oppositionsprojekt hierzu. Der Bundesrat, der für die 2. Gotthard-Röhre warb, ist nun auf der Nein-Seite.

Erste Bilanz
Alleine aufgrund der Prädispositionen zur Zweckbindung von Verkehrsabgaben ist ein Volksmehr zur Milchkuh-Initiative denkbar. Letztlich ist jedoch, wie bei allen Volksinitiativen, die Schwachstelle des Vorhabens entscheidend. Die Kommunikation hierzu wirkt sich erst im Abstimmungskampf aus. Sie setzt zweifelsfrei bei den Folgen für die allgemeine Bundeskasse und einzelne Ausgaben- resp. Bezügergruppen an. Für die Mehrheit entscheidend ist die Haltung der CVP. Ein wenig offen ist auch die Position der FDP-Wählerinnen.
Bis genauere Informationen zu den ersten Stimmabsichten insgesamt und dieser Gruppen vorliegen, taxieren wir den Ausgang dieser Volksentscheidung als offen.

Claude Longchamp