Erstanalyse der Stadtberner Parlamentswahlen 2012

“Der Bund” interviewte mich eben zu meiner Erstanalyse der Stadtberner Parlamentswahlen 2012. Hier das Resultat.


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Nach den Exekutivwahlen stand RGM als klare Siegerin da. Bei den Stadtratswahlen ist das Bild differenzierter. Wie ändern sich die Kräfteverhältnisse im Stadtparlament?
Die Wahlen in den Stadtrat zeigen zwei Trends: Erstens, die Polarisierung, zweitens, die neuen Mitteparteien. Zu ersterem zählt, dass SP und SVP, beschränkt auch das GB, wähler- und sitzemässig zulegen. Für den Trend zu den neuen Mitteparteien sprechen vor allem die Gewinne von GLP, beschränkt auch von der BDP. Ein wichtiger Teil der Veränderungen stammt aus den drei Lagern: So verliert die FDP, was die SVP gewinnt, in der Mitte wird die CVP schwächer und RGM hat gewisse Verluste bei der GFL zu beklagen. Zudem zieht mit der AL eine neue linke Kraft ins Parlament, die nicht zu RGM gehört. Gesamthaft wurden die Kräfte in der Mitte leicht gestärkt, wie man das erwartet hatte, aber auch die Linke ist nach den Wahlen etwas stärker als davor. Die Mehrheitsverhältnisse sind damit nicht wesentlich anders als zuvor. Entscheidend ist und bleibt, wie sich die ParlamentarierInnen der GFL positionieren.

Die SVP steht neu als zweitstärkste Kraft da, die Rechte lässt am rechten Rand aber Federn. Bei der Linken legt die SP zu, auf Kosten der Splitterparteien. Woher rührt diese Tendenz zu den moderaten Kräften?
Ob man die SVP wirklich als moderat bezeichnen kann, wage ich zu bezweifeln. Was sich rechts aber abzeichnet, ist eine Konzentration auf zwei Parteien, denn verloren haben die kleinen Gruppierungen. zu viel würde ich da nicht hinein interpretieren, weil die Verluste an Wähleranteilen sind geringer als es die Sitzverluste vermuten lassen. Hauptgrund hierfür dürfte vor allem die Mobilisierung sein, denn die Beteiligung war ja tiefer als vor vier Jahren. Auch links bleiben die vermuteten Trends eher bescheiden: das GB gewinnt, gleichzeitig verliert die JA!. Gleiches zeigt sich bei der GBP, die einen Sitz weniger hat, dafür gibt es neu die AL. Hier kann man durchaus Wechselwählen aufgrund der KandidatInnen oder gewisser Themen vermuten.

Mit dem starken Ergebnis der GLP wird die Mitte insgesamt gestärkt. Rückt man damit weiter vom bipolaren Links-Rechts Schema ab und spielt die Mitte künftig eine entscheidende Rolle bei der Bildung von Mehrheiten?
Im längerfristigen Vergleich hat sich das Parteiensystem der Stadt Bern in den letzten 20 Jahren zweimal verändert: 1992, als RGM entstand, und die SP mit dem Bündnis ihre isolierte Position im bürgerlichen Bern durchbrechen konnte. Seither wird Bern von links regiert, mit einer vorherrschenden Polarisierung zwischen den beiden weltanschaulichen Lagern. Mit 2008 zeichnete sich ab, dass das bürgerliche Lager in Auflösung begriffen ist, sich auf der einen Seite eine Mitte formiert, auf der anderen ein rechtsbürgerlichen Bündnis. Die Akzente haben sich da Richtung Mitte verschoben, und innerhalb der Mitte sind heute BDP und GLP gleichauf. Ob daraus ein schlagkräftiges Lager wird, muss sich noch weisen. Im Moment würde ich eher von einer Allianz aus vier Parteien mit einem Gemeinderat sprechen, die sich sachpolitisch auf die eine oder andere Seite entscheidet und nicht gesichert als Block auftreten kann.

Die Grünen Parteien haben insgesamt zugelegt. Verbessern sich damit die Chancen auf eine geeinte grüne Kraft?
Das gilt letztlich nur arithmetisch. Grüne Parteien haben knapp 3 WählerInnen-Prozente hinzugewonnen, und sie stellen zwei ParlamentarierInnen mehr. Doch ist die Einigkeit damit nicht grösser geworden, eher umgekehrt: Die GLP ist im Mitte-Lager, die GBP und die AL sind ausserhalb von RGM und GB und GFL im Regierungslager harmonieren nicht reibungslos. Zusammen repräsentieren die verschiedenen grünen Parteien genau einen Drittel der Wählenden, und man wäre damit grösser als die SP. Doch die strategisch relevanten Gemeinsamkeiten in thematischen und personellen Frage sind gering.

Die SP hat auf nationaler Ebene ihren langjährigen Sinkflug 2010 auffangen können. Inwiefern ist ihr Abschneiden bei den Berner Gemeindewahlen richtungsweisend für die nationalen Wahlen 2015?

Überzeichnen würde ich die Momentaufnahme nicht, denn der Stadt-/Landgraben in Sach- und Parteifragen geht mitten durch die SP durch. In den grossen Städten hält sie sich gut oder legt zu, auf dem Land verliert sie eher. Für die SP wird massgeblich sein, ob sie ihren Schub aus den Grossstädten auf weitere, mittelgrosse Zentren übertragen kann oder nicht.

Die Wahlbeteiligung bei der Stadtratswahl lag bei 37,6 Prozent – fast 6 Prozent tiefer als 2008. Worauf ist das zurückzuführen und wem hat es geholfen?
Hauptgrund sind die Stadtpräsidentenwahlen. Ihnen fehlte diesmal das Spannungsmoment. Alex Tschäppät war in der Mitte nicht wirklich bestritten, und die Konkurrenz war zu schwach, um einen ernsthaften Anspruch auf das Amt anmelden zu können. Damit fehlte die Mobilisierungswirkung, wie sie 2008 mit dem Kampf zwischen Tschäppät, Hayoz und Hofer bestand. Zudem kam die denkbare Wendestimmung nicht auf. Anders als 2008 erneuerte sich Rot-Grün diesmal personell, während die Querelen im bürgerlichen Bündnis um die Nominationen für Gemeinderat und Stadtpräsidium so stark waren, dass eine programmatische Alternative nicht wirklich sichbar wurde. Ohne Machtansprüche und wirklichen Personen- und Sachentscheidungen mobilisieren Wahlen seit einiger Zeit nicht mehr.

Claude Longchamp