Kann das Stimmvolk Schiedsrichter zwischen National- und Ständerat sein?

Politgeograf Michael Hermann positioniert nicht nur PolitikerInnen und Parteien in seinem Spinnennetz. Er verwendet seine Koordinaten der politischen Landschaft neuerdings auch um die beiden Parlamentskammern und die Stimmenden im Vergleich darzustellen. Ein Kommentar zum Artikel im heutigen Tages-Anzeiger (leider nicht auf dem web).

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Das Volk ist in der Demokratie der Massstab aller Dinge. Das ist auch im neuen smartspider so. Denn was die Stimmenden in Volksabstimmung für richtig befunden haben, bildet die Nulllinie. So wie National- und Ständerat gestimmt haben, lässt sich im Vergleich dazu beurteilen, lautet die neueste Darstellungsidee von Hermann.

Seine Ergebnisse und Bewertungen lauten:

    In Fragen der aussenpolitischen Oeffnung einerseits, der restriktiven Ausländerpolitik anderseits, weichen beiden Parlamentskammer am meisten von der Volksmeinung ab. Sie politisieren hier offener, weniger verschlossen.
    Wenn es um Liberalisierung geht, sind beide Kammern positiver eingestellt. Das gilt für Fragen der Wirtschaft wie der Gesellschaft.
    Praktisch keine Abweichungen zwischen den drei Akteuren lassen sich, übers Ganze gesehen, in der Umwelt- und Finanzpolitik festhalten.
    Schliesslich seien die starke Armee und der starke Sozialstaat erwähnt. Da weicht vor allem der Ständerat von den Volksentscheidungen ab, kaum aber der Nationalrat. Bei der Armeestärkung gibt er mehr Gas, bei sozialen Fragen bremst er eher.

Linker als der Nationalrat ist der Ständerat nicht wirklich. Aber anders. Dass beide Kammern unterschiedlich seien, findet auch Hermann gut. Würden sie beiden gleich ticken, bräuchte es auch nicht zwei Kammern.

Immerhin, Hermann hat sich in seinem neuesten Buch zur Rettung der Konkordanz dafür ausgesprochen, dass das Volk im Differenzbereinigungsverfahren zwischen den beiden Kammern eine Art Schiedrichter-Funktion zukommen sollte. Denn wenn sich National- und Ständerat nicht einigen können, soll das Volk entscheiden, propagierte er anfangs Juli in einem Gutachten für Avenir Suisse.

Da kommt sich der Politgeograf selber in die Quere. Denn in kaum einem Politikbereich sind die Positionen der Stimmenden zwischen jenen der beiden Parlamentskammern. Entweder gibt es keinen Differenzen, oder die Stimmenden und der Nationalrat sind einander verwandter. Müssten jene zwischen den Präferenzen der grossen und kleinen Kammer entscheiden, würde das den Nationalrat stärken. Das würde in zahlreichen Bereichen ohne inhaltliche Uebereinstimmung geschehen. Ein Schiedsspruch zwischen Varianten würde damit zum populistischen Veto werden, gegen das Gebahren der beiden Kammern. Denn wo es eine Kluft zwischen Behörden und Volk gibt, besteht sie aus der Sicht des Souveräns gegenüber National- und Ständerat.

Ich ziehe den Druck auf die PolitikerInnen sich zu raufen vor, bevor man eine verbindliche Entscheidung dem Volk zur Sanktionierung vorlegt.

Claude Longchamp