10 Trends in Schweizer Wahlkämpfen des letzten Vierteljahrhunderts

Sie sind jung, und sie wollen ein Interview von mir. Für eine Gruppe GymnasistInnen aus Wettingen soll ich die Wahlkämpfe der letzten 25 Jahre ausleuchten. Hier meine 10 Thesen.

SCHWEIZ SVP PARTEI
Prägten zahlreiche Veränderungen in Schweizer Wahlkämpfen: die SVP des Kantons Zürich, hier im Jahre 1987 (Quelle: 20 min)

Eines vorneweg: Ich erhalte viele Anfragen für Interviews im Rahmen von Matura-Arbeiten. Wenn ich den Eindruck habe, das liegt eigentlich schon gut aufgearbeitet vor, sage ich ab. Das mache ich auch, wenn ich mich für nicht kompetent halte.

Diese Woche habe ich eine mail aus dem Wettinger Gymnasium gekriegt, mit der Bitte, mich zu Veränderungen in Wahlkämpfen zu äussern. Konkret geht es um den Wandel der politischen Kommunikation im letzten Vierteljahrhundert. Ich habe ausnahmsweise zugesagt, weil es durchaus eines “meiner” Themen ist, es dazu aber nichts Kompaktes dazu zu lesen gibt.

Erstens: Seit 1983 ist die Parteienlandschaft in Bewegung: Neue Parteien sind entstanden, vor allem grüne, aber auch Antipoden hierzu. Von Bedeutung sind auch die Veränderungen in den Parteistärken. Die SVP setzte nach 190091 zum Höhenflug an und die deutlich grösste Partei geworden, die SP hielt bis vor rund 5 Jahren mit, und auch die GPS legte mehrheitlich zu. Seit 2007 gilt dies auch für die neu entstandene GLP, und 2011 haben sie und die BDP die besten Aussichten, sich in der Parteienlandschaft auszubreiten. Rückläufig sind die Anteile im bürgerlichen Zentrum. Parallel dazu ist die Wahlbeteiligung wieder gestiegen.

Zweitens: Der grösste Einschnitt in der politischen Kommunikation der Schweiz ist die EWR-Entscheidung von 1992. Damals entwickelten sich Medien zur Avantgarde und polarisierten Parteien die Konsenskultur. Auf Wahlkämpfe färbte sich das ab, inden namentlich links und rechts die Binnenorientierung, fokussiert auf die Stammwählerschaft, zugunsten von Angriffswahlkämpfen aufgegeben wurde, mit der WechselwählerInnen und bisherige Nichtwählende anvisiert wurden. Damit hat die Dynamik von Wahlkämpfen zugenommen.

Drittens: Verändert wurde auch die vorwiegend kleinräumig ausgerichtete Kampagnenkommunikation der Parteien, indem Auftritt, Form und Inhalt zentralisiert und aufgrund von Erkenntnissen des politischen Marketings ausgerichtet wurde. Parallel dazu entwickelte sich das Themensetzen der Parteien mit Kampagnen als gesamtschweizerische oder sprachregionale, jedenfalls überkantonale Aufgabe, deren Ziele es nicht mehr ist, die politische Debatte zu fördern, sondern den Mix an relevanten Informationen und Stimmungen zu seinem eigenen Vorteil zu optimieren.

Viertens: Geöffent haben sich die Parteien ausgehend vom bürgerlichen Zentrum für Kampagnen der immer zahlreicher werdenden KandidatInnen, die im bessern Fall auf die Parteikampagnen abgestimmt sind, im schlechteren weitgehend unabhängig davon funktionieren. Vorbild hierfür waren die Ständeratswahlkämpfe, die jedoch auf die Nationalratswahlen abfärbten.

Fünftens: Die Medien haben ihre Wahlkampfberichterstattung ausgebaut. Dabei haben sie ihre Rollen als Partei- oder Forumszeitung zusehends verlassen. Sie sind heute kaum mehr nur Transporteure, sondern Akteure in Kampagnen, die sich mit Eigenleistungen profilieren wollen, aber auch mit Kontroversen und Skandalen die Wahlen beeinflussen wollen. Zugenommen haben die Bedeutung der mediale Inszenierungen und der kommerzialisierten Politbewerbung, mit der die Grenzen zwischen Berichterstattung und Propaganda zunehmend auch verwischt wird. Nicht zuletzt die neuen Medien haben diese Veränderungen in jüngster Zeit noch beschleunigt.

Sechstens: Mit der Visualisierung des Journalismus geht eine Trend zur Personalisierung der Wahlen einher. Entstanden sind neue Rollen für ParteipräsidentInnen, aber auch charismatische Leaderfiguren, die dem Wahlkampf das tägliche Tempo geben. Die BundesrätInnen als die häufig bekanntesten ParteivertreterInnen werden in die zunehmend umfassende und dauerhaft betriebene, kampagnenartige Politiberichterstattung einbezogen, sodass die Unterscheidung von Wahlen ins Parlament und Regierung verwischt werden.

Siebtens: Entstand ist auch eine Expertenkultur in Kampagnen, welche deren Gesetzmässigkeiten und Auswirkungen medial analysieren, allenfalls auch Parteien und KandidatInnen kritisieren oder unterstützen. Häufiger geworden ist auch der Einsatz wissenschaftlicher Beobachtungs- und Analyseinstrumente zu Wahkämpfen in der Schweiz, mit der auch kritische Fragen zur Kommenzialisierung von Wahlkämpfe häufiger gestellt werden. Beschränkit mischen sich neuerdings auch WahlbeobachterInnen und ausländische Institutionen in Schweizer Wahlkämpfe ein.

Achtens: Uebers ganze gesehen ist hat die Involvierung der Bürgerschaft in Wahlkämpfe national klar zugenommen. Entsprechend ist die gesamtschweizerischen Wahlbeteiligung steigend, und differenziert sich diese immer deutlicher von der klar tieferliegenden Beteiligung an kantonalen Wahlen.

Neuntens: Die meisten der hier geschilderten Trends sind in der deutschsprachigen Schweiz deutlicher beobachtbar, in der französisch- und italienischen Sprachregionen wenig ausgeprägt. Zudem gehen die medialen Entwicklungen in der Regel von den urbanen Zentren aus, diffundieren von da aus aber auch aufs Land. Neu werden Schweizer Wahlkämpfe auch durch globale Ereignisse und Trends bestimmt.

Zehntens: Zahlreiche Trends könnten 2007 ihren Höhepunkt erreicht haben. Im aktuellen Wahlkampf besteht der Eindruck, dass sich einige der Entwicklungen nicht nochmals akzentuiert haben. Das gilt namentlich für die Polarisierung der Parteienlandschaft, die auf hohem Niveau möglicherweise an ihr Ende gekommen ist. Es könnte aber auch auf die Mobilisierung der Bürgeschaft durch Wahlen zutreffen.

Ich werde über die Erfahrungen im Interview mit den GymnasistInnen berichten. Selbstverständlich auch über die Konfrontation dieser Thesen mit dem Wahlkampf 2011.

Claude Longchamp