Was nur heisst strategisches Wählen?

Zwei zentrale Aussagen kommunizierte FORS, das Schweizer Kompetenzzentrum für Sozialwissenschaften, gestern mit der Vertiefungsstudie zur Analyse der Nationalratswahlen 2007 im Rahmen einer Sondernummer der Schweizerischen Zeitschrift für Politikwissenschaft: Erstens, der Kulturkampf überlagert den Klassenkampf; zweitens, die WählerInnen würden strategisch für ideologische Parteien stimmen, die extremer seien als sie, damit sich überhaupt etwas bewege. Ersterem kann man wohl vorbehaltslos zustimmen. Zweiteres ist jedoch diskussionsbedürftig.

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Positionen der KandidatInnen und der WählerInnen bei den Nationalratswahlen 2007. Die Polarisierung der KandidatInnen ist vor allem auf der Links/Rechts-Achse grösser als auch der 2. Dimension, welche die Wählenden mehr teilte.

Die Befunde sind recht offensichtlich: Die Wählerschaften der Parteien sind auf der neuen Konfliktdimension stärker polarisiert als auf der alten. Die Kandidierenden indessen trennt die alte Dimension mehr als die Neue. Das führt zu Inkohärenzen zwischen Parteieliten und Parteiwählerschaften. SP, aber auch Grüne sind oben und unten etwa gleich stark für gesellschaftlichen Offenheit, nicht aber wenn es um mehr oder weniger Staat geht. Da denken die Parteiwählerschaften viel pragamtischer als die BewerberInnen für politische Aemter. Aehliches findet sich bei SVP, tendenziell auch bei FDP in umgekehrter Richtung. Die Marktorientierung der Politiker ist akzentuierter als die der WählerInnen.

Die Autoren der Zweitanalyse der Selects-Daten zu den letzten Nationalratswahlen 2007 interpretieren die PolitikwissenschafterInnen (zusammengefasst) so: Gewählt werden nicht die Personen, mit denen man die grösste Uebereinstimmung hat, sondern jene Parteien, von denen man am ehesten erwartet, dass sie die Politik in die gewünschte Richtung verändern.

Das ist zunächst interessant: Denn es deutet darauf hin, dass Themen wie die Migrationsfrage 2007 polarisierten und die Wahlentscheidungen beförderten, das dabei aber PolitikerInnen gewählt wurden, deren primäre Gesetzlichkeiten gar nicht in dieser Frage liegen.

Ob man das alles positiv als strategische Wahl charakterisieren soll, kann man aber bezweifeln. Vielmehr müsste eine kampagnenkritische Untersuchung zeigen, wie es kam, dass eine Thematik zur vorherrschenden und wahlentscheidenden wurde, ob wohl diese gar nicht den Selektionskriterien der Parteien auf Ebene der KandidatInnen entspricht. Gefragt werden müsste auch, ob die Hoffnung, dass Wahlen ein Parlament bestimmen, das in entscheidenden Fragen der Wählerschaft repräsentativ zusammengesetzt ist, in der Mediendemokratie obsolet geworden ist, weil sich zwischen politischer Realität und wahlkämpferischer Medialität eine immer grössere Schere öffnet.

Man kann aber auch noch weiter gehen, nicht nur den Begriff, sondern auch die Interpretation in Frage stellen. Denn die Bi-Polarisierung der Parteienlandschaft, wie sie 1995-2003 die Wahlen in den Schweizer Nationalrat bestimmten, fand 2007 eine mindestens erhebliche Relativierung. Polartig formierte sich nur noch der nationalkonservative Teil der Parteienlandschaft in Form der SVP weiter. Links wuchs nicht mehr, kannte einzig noch eine Verlagerung der Schwergewichte von der SP zur GPS. Neu entstand 2007 die GLP, und mit der BDP, die sich 2008 als Abspaltung von der SVP formierte, setzte sich der Prozess der Neuformierung des politischen Zentrums gleich nochmals fort.

Die Frage ist deshalb berechtigt, ob die Parteien generell, mindestens einige wesentliche davon, die Zeichen der Zeit richtig erkannt hatten oder haben. Denn eine andere als von den Selects-Autoren favorisierte Interpretation des Datenmaterials wäre, dass ein Teil der WählerInnen von der harschen, eindimensionalen Polarisierungen des politischen Diskurses in den Medien und unter den Parteispitzen genug hat, und sich zwischenzeitlich wieder gemässigteren Positionen annähert. Das würde es dann auch heissen, dass strategisches Wählen nicht die Unterstützung von Parteien und KandidatInnen wären, die einem nicht wirklich entsprechen, sondern von Personen und Gruppierungen, die so sind, wie man das gerne hätte, nämlich moderater.

Der Erfolg beispielsweise von smartvote, dem Empfehlungen für KandidatInnen und Parteien aufgrund thematischer Uebereinstimmungen, spricht eher für diese Interpretation. Denn die Analyse von Selects würde dafür sprechen, dass man smartvote zwar verwendet, dann aber ganz anders entscheidet. Das mag ich schlicht nicht glauben, denn wer smartvote einsetzt, macht es, jene Personen und Parteien zu wählen, die ihnen effektiv nahestehen.

Claude Longchamp