Alles nur Taktik? Schweizer WählerInnen auf dem Prüfstand

Romain Lachat, akademischer Wahlforscher an der Uni Zürich, widerspricht in einem Blogbeitrag zu einem seiner Forschungsartikel der vorherrschenden Interpretation der Schweizer Wahlforschung. Die Polarisierung der Parteienlandschaft sei stärker als die der Wählerschaft. Diese taktiere bei Wahlen vor allem.

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Romain Lachat: Schweizer WählerInnen wählen extremer als ihre Präferenzen, damit sich etwas in ihrem Sinn verändert.

Da es im Konkordanzssystem nur Minderheitsparteien mit einem begrenzten Einfluss auf die Regierungsposition gibt, können Wählende versucht sein, mit der Unterstützung von Parteien, die extremer als ihre eigenen Präferenzen sind, ihren eigenen Einfluss auf Entscheidungen zu vermehren, argumentiert Lachat. So sei die sachliche Polarisierung der schweizerischen Wählerschaft geringer als man aufgrund der Parteienpolarisierung annehme. Doch zeigten seine Analysen, dass das taktische Wählen im Sinne des “kopmensatorischen Wählens” seit 2003 zunehmen würde.

Nicht zuletzt hätte die damalige Veränderung der Regierungszusammensetzung gezeigt, dass man mit seiner Stimme mehr als nur die Parteistärken im Parlament festlegen könne. Das habe man zwischenzeitlich begriffen, weshalb der Zürcher Politologe glaubt, dass die Polarisierung der Wählerschaft werde 2011 nochmals zunehmen.

Lange Zeit war die akademische Wahlforschung bestimmt durch die Vorstellung, Issue-Voting sei alles entscheidend. Das hat auch das Selects-Projekt geprägt. Zwischenzeitlich sieht man vielerorts, dass das eine gewagte Annahme war. Gewagt ist es aber auch, dass nun durch ein anderes Leitmotiv der Forschung ersetzen zu wollen.

Insofern ist taktisches Wählen neben Themen- und Personenwählen nur eine Möglichkeit, Wahlentscheidungen zu analysieren. Und sie ist nicht einmal neu. 2006, als das Wahlbarometer konzipiert wurde, haben wir das als eine der Hypothesen aufgenommen, die wir (mit beschränktem Erfolg) testeten.

Bemerkenswert ist in der Tat die Polarisierung der schweizerischen Parteienlandschaft für die letzten 15 Jahre, die sich indessen abschwächt. Die SP verliert seit 2006 Wahlen, die Grünen spüren die Konkurrenz der glp in der Mitte und gewinnen nicht mehr automatisch. Das Erstarken der BDP als bürgerliche Kraft ist für gemässigte WählerInnen attraktiv, was FDP und CVP beschäftigt.

Es bleiben die Gewinne der SVP. Meiner Meinung nach sollte man sie weder als reine Themenwahl noch als reine Taktik (“Flugsand”, “Proteststimmen”) interpretieren, sondern als Ausdruck einer neuen politisch-kommunikativen Konfliktlinie. Diese ergibt sich aus dem Wandel der politischen Konkordanzkultur einserseits, dem Erstarken nationalistischer und nationaler Orientierungen anderseits. Beides führt zur Ausbildung eines eigenen Wertehimmels, eigener Verhaltensweisen mit zwischenzeitlich hoher WählerInnen-Bindung.