EU-Parlament: eine Wahl der “zweiten Wahl”?

Die erwartete tiefe Beteiligung bei den Wahlen ins Europäische Parlament ist ein wichtiges Kennzeichen für eine “Wahl zweiter Wahl”. Das Konzept der “second-order-election” lässt erwarten, dass rechtskonservative wie linksgrüne Protestparteien gegen die jeweiligen Regierungen über dem bekannten Masse hinaus Erfolge erzielen.

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In der einfachsten Definition sind Wahlen da, um die politische Machtverteilung zu regeln. Wenn der Präsident nicht direkt gewählt wird, hängt doch minimal die Wahl des Parlaments direkt von der Volkswahl ab.

Seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts verwendet die Politikwissenschaft die Begriffe der first- or second-order-election, um die Wichtigkeit von Wahlen zu kennzeichnen. Von Letzterem spricht man, wenn eine Wahl als zweitrangig angesehen wird. Das äussert sich einerseits in einem geringeren Engagement von Parteien, die nicht selten nur zweitklassige VertreterInnen für die Parlamentsämter nominieren. Es kommt aber auch in der geringeren Aufmerksamkeit einer Wahl durch die Medien zum Ausdruck. Schliesslich kann die Höhe der Wahlbeteiligung herangezogen werden, um eine first- von einer second-order-election zu unterscheiden.

Eingeführt wurde der Begriff im Zusammenhang mit den Wahlen ins Europäische Parlament von 1979, die in der Folge als weniger wichtig gelten. In der Tat zeigten die meisten EU-Wahlen in den westlichen Demokratien die Kennzeichen einer Entscheidung der “zweiten Wahl”; das war aber 2004 in den neuen Mitgliedstaaten in Mittel- und Osteuropa nicht der Fall.

Das Konzept ist nützlich, weil es ein in mehrfacher Hinsicht ein besonderes Wählerverhalten annimmt. Zu der geringeren Mobilisierungsbereitschaft des Elektorates kommt eine steigende Bereitschaft hinzu, second-best Entscheidungen zu treffen, das heisst, auch als WählerIn einer Regierungspartei bei nationalen Wahlen eine Aussensseiter- oder Protestparteien auf EU-Ebene zu unterstützen. Hauptgrund hierfür ist, dass Unzufriedenheit mit der bestehenden Regierung ausgedrückt wird, ohne diese direkt zu sanktionieren.

Angesichts der Wirtschaftskrise und politischem Protest von rechts und links gegen die nationalen Regierungen kann man auch am kommenden Sonntag von entsprechenden Signalen einer second-order-election ausgehen. Bedroht erscheinen vor allem die Regierungen in Grossbritannien und in Ungarn.

Claude Longchamp