Man kennt sie, die anonymen AlkoholikerInnen. Sie schliessen sich zusammen, um ihre Lebenskrise gemeinsam zu bewältigen. Nun scheinen sie unliebsame Verstärkung zu bekommen: durch anonyme BeamtInnen, JournalistInnen und PolitologInnen, die sich zusammenzuschliessen, um die Regierungskrise weiter anzuheizen.
Der umgekehrten Reihe nach: In der heutigen BernerZeitung lese ich, “anonyme Politologen” seien “ansatzweise” der Meinung, Bundesrätin Calmy-Rey habe Verrat begangen. Das weiss die BZ jedoch nur, weil sie dem “Blick” abschreibt, der zwei Politexperten befragte hatte. Der eine gab Gas, der andere trat auf die Bremse. Journalistisch gefiel vor allem der Beschleuniger, denn er wurde führte den anonymen Journalisten in der “Blick”-Redaktion, von Landesverrat zu sprechen und die Frage nach dem Rücktritt der Aussenministerin aufzuwerfen.
Doch der war gar nicht der Urheber der Geschichte. Er schrieb nämlich auch dem Kollegen vom Sonntagsblick ab, der am Wochenende aus einem Brief des EDA an die OECD zitierte, der von Aussenminiisterin Calmy-Rey unterschrieben, aber nie abgeschickt worden war. Das reichlich zusammengeschusterte Corpus deliciti darin: “«Die OECD … liefert den Experten der Regierungen … Dialog und …Erfahrungsaustausch … zu sehr spezifischen Bereichen. Der konkrete Beitrag der OECD zuhanden der G-20 ist das beste Beispiel dafür.»
Und die Moral von der Geschichte? – Ohne anonyme Beamte, die den nicht abgeschickten Brief auf der Schublade holten, ohne anonyme JournmalistInnen, die daraus Landsverrat und Rücktrittsgründe schusterten, und ohne anonyme PolitologInnen, die das Ganze zu rechtfertigen halfen, gäbe es die neuste Kampagne aus dem Hause Ringier und ihren Helfeshelfern nicht.
Und das wäre von Vorteil!
Denn die aktuellen Regierungskrise bedarf ihrer Bewältigung. Ohne dass anonyme Selbsthilfegruppen das aktuelle Feuer gebrauchen, um ihr Süppchen dauf zu kochen, sprich in ihren anonymen Zirkeln schon mal den Regierungsputsch proben.
Claude Longchamp
Medienminister Moritz Leuenberger analysiert den gegenwärtigen Zustand der Massenmedien auf seinem Blog wie folgt:
“Im Gerangel um mediale Aufmerksamkeit hat eine Inflation der Unflätigkeiten eingesetzt, welche die Kunst politischer Polemik entwertet hat. Gröbste Anschuldigungen erweisen sich als Übertreibungen und wirken nur noch lachhaft. Die verletzte Ehre, für die vor hundert Jahren noch zum Duell aufgefordert wurde, wird kaum noch geltend gemacht.”
ganzer Beitrag hier
[…] ergeben, die bisher nicht üblich waren. das wiederum hat in den massenmedien zu einer welle von querschüssen aller art geführt, die mir bisher nicht geläufig […]
Nun schimmert der Zusammenhang zwischen der Blick-Kampagne gegen Calmy-Rey und der SVP-Delegiertenversammlung immer deutlicher auf. In der online-Ausgabe von Blick werden SVP-Grössen zitiert, welche den Bundesrat, insbesondere aber die Aussenministerin, rügen und des Landesverrats bezichtigen.”
Quelle: http://www.blick.ch/news/schweiz/landesverraeterin-calmy-rey-soll-besser-bei-einer-ngo-arbeiten-115550
Quelle: http://www.blick.ch/news/schweiz/landesverraeterin-calmy-rey-soll-besser-bei-einer-ngo-arbeiten-115550
Natürlich gibt es verschiedene Möglichkeiten von Zusammenhöngen:
Erstens, die SVP greift das auf, was diese Woche in den Medien stand. Eine rein taktische Reaktion.
Zweitens, die Geschichte stand diese Woche in den Medien, weil sie von der SVP aufgegriffen werden könnte. Eine Einladung quasi.
Drittens, die SVP lancierte die Geschichte über den Blick, damit dieser sie vorbereite, um dann von der SVP kraftvoll aufgenommen werden zu können, worüber der Blick dann prominet berichten kann. Das Doppelspiel also.
Oder viertens, (Sonntags)Blick und SVP haben etwas gemeinsames zu verbergen. Das jedenfalls behauptet der Sonntag in seiner heutigen Ausgabe.
Demnach hat der Bundesrat am vergangnen Mittwoch eine intern Untersuchung gegen Bundesrat Ueli Maurer eingeleitet, da dieser verdächtigt wird, die Indiskretion ausgelöst und das Kollegialprinzip geritzt zu habe. Ueli Maurer habe sich für das Interview vom 15.3. im Sonntagsblick zu Entscheid in Sachen Bankgeheimnis entschuldigt und den Sonntagsblick, der ein Gespräch mit ihm ohne Autorisierung veröffentlicht hatte mit einem Interviewboykott bis Ende Jahr belegt. Zu Untersuchung gegen Ueli Maurer wegen Indiskretion nahm das VBS nicht Stellung.
Eine Zeitung am Sonntag, die kein “Geheimnis” zu lüften hat, scheint halt nicht interessant zu sein. Eine Indiskretion (OECD-Brief von Calmy-Rey) hier, eine andere als Antwort dort (Knatsch im Bundesrat u. geplante Untersuchung), statt dass Maurer und Calmy-Rey unter sich ev. reinen Tisch machen, findet dann eine Art Stellvertreter/innenkrieg “draussen” statt, mit irgendwelchen Beamten, Journalisten etc.