Once again: forecasts, snapshots, and trends

Eigentlich habe ich schon genug darüber geschrieben, was Prognosen, Momentaufnahmen und Trends in der öffentlichen Meinung sind. Wenn ich es heute nochmals mache, dann hat das einen besonderen Grund. Denn man kann die Charakteristik der verschiedenen Info-Tools vor Abstimmungen in der immer klarer unterscheiden. Erläuterungen


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Zuerst die Definitionen
. Prognosen sind Aussagen über Zustände oder Entwicklung in der Zukunft.
. Momentaufnahmen sind Aussagen über Zustände in der Jetzt-Zeit.
. Trends sind Entwicklungen in der Gegenwart.

Sodann zum Einsatz
Bei Volksabstimmungen machen Momentaufnahmen meist keinen Sinn. Denn die Meinungsbildung ist angesichts der Vielfalt an Themen zu kurzfristig und dynamisch. Initiativen starten in der Regel zu hoch. Behördenvorlagen haben vielfach zu viele Unentschiedene.
Momentaufnahmen sind deshalb nur als Startpunkt für Trends brauchbar. Trends liegen aber erst dann vor, wenn mindestens zwei vergleichbar gemachte Momentaufnahmen erstellt wurden. Konkret, das gleiche Institut muss zweimal gleich befragt werden.
Genau deshalb hält man deshalb bei Abstimmungen neuerdings Ausschau nach Prognosen. Sie weisen in die Zukunft, auch wenn (noch) keine Trends vorliegen. Das ist his 30 Tage vor der Abstimmung fast immer so.
Zu den etablierten Trend-Umfragen von SRG und Tamedia kommen deshalb seit wenigen Jahren Modell-Rechnungen hinzu. Sie leiten das Abstimmungsergebnis aus anderen, vor der Abstimmung vorliegenden Informationen ab.
Momentan sind drei Prognose-Verfahren gebräuchlich:
. Www.Stellus.ch erstellt Prognosen mittels künstlicher Intelligenz aus den Texten des Abstimmungsbüchleins des Bundes. Liegt dieses vor, gibt es Aussagen zum Abstimmungsausgang. Die These lautet: Aus dem Wortlaut der Abstimmungsgegenstände u nd Erläuterungen kann man sagen, was angenommen oder abgelehnt wird. Zuerst waren die Aussagen nur qualitativer Natur, das heißt bloß Ja oder Nein. Neu gibt es auch quantitative Prognosen mit einem bestimmten Ja-Anteil.
. Auf diesem Blog veröffentliche ich seit geraumer zwei andere Prognose-Varianten: einmal die Vorhersage der Abstimmungsergebnisse aufgrund der Schlussabstimmungen im Nationalrat, sodann aufgrund des Parolenspiegels. Entwickelt wurden beide Verfahren gemeinsam mit der Zürcher Politikwissenschafterin Michelle Huber. Unsere These: Aus dem Konfliktmuster im Parlament oder im Abstimmungskampf kann man das Ergebnisse in der Volksabstimmung ableiten.
All diese Verfahren arbeiten mit Algorithmen, die lernen, aus bisherigen Zusammenhängen auf neue Ergebnisse zu schließen.

Schließlich der Zeitpunkt
Prognosen haben die Eigenschaft, dass sie, einmal gemacht, sich nicht mehr ändern. Deshalb unterscheiden sie sich letztlich im Zeitpunkt der Erstellung. Am schnellsten sind die Schlussabstimmungen, gefolgt vom Bündesbüchlein. Mehr Zeit braucht dagegen der Parolenspiegel,
Alle Prognosen sind aber schneller als die ersten Vorumfragen bei Volksabstimmungen. Deren Nachteil ist es, dass sie sich mit jeder Erhebung ändern (können), sodass die erste Momentaufnahme noch wenig aussagt. Ihr Vorteil: Sie erfassen spezifische Entwicklungen im Abstimmungskampf.
Genau das bleibt die Schwäche von Prognosen. Denn sie unterstellen eine mittlere Wirkung von Pro- resp. Kontra-Kampagnen. Ist das nicht der Fall, können sich auch Prognosen irren.

Stärken und Schwächen von Prognosen und Trends
Aktuell liegen zwei Prognosen vor: die von Stellus und die von Michelle Huber und mir; die dritte mit den Parteiparolen folgt gegen Ende Monat.
Die Umfrage-Serien werden in den kommenden Tagen erstmals veröffentlicht. Derzeit läuft die Datenerhebnung. Die letzten Umfragen, die prognostisch relevant sind, werden 10 Tage vor dem Abstimmungssonntag folgen.
Beides – Umfragen und Prognose-Tools – sollte man klar auseinander halten. So macht es keinen Sinn, Prognosen die Variabilität von Umfragewerte vorzuhalten. Und es führt nicht weiter, Momentaufnahmen mittels Umfragen mit dem Endergebnis zu verwechseln.

Wettbörse: ein Mix
Effektiv gibt es noch eine dritte Kategorie von Erhebungen, die hier interessieren. Es sind Schätzungen zum Abstimmungsausgang. Es sind Quasi-Prognosen. Effektiv sind es Aussagen über die Zukunft, aber sie sind nicht fix. Sie werden nicht modelliert, sondern aus der Beobachtung abgeleitet.
Das kennt man in der Schweiz aufgrund des Tools von www.50plus1.ch. Dabei wettet eine anonyme Gruppe von Expert:innen auf das Abstimmungsergebnis. Die Idee dahinter ist, dass Märkte Informationen effektiv verarbeitenden bewerten. Die Werte der Wettbörse sind nicht fix, weil sich die Annahmen, die zu Wetten führen, ändern können. Bekannt ist zum Beispiel, dass publizierte Umfragen einen Einfluss haben. Denkbar ist auch, dass Interessierte versucht sind, das Wettergebnis zu manipulieren.
Aktuell liegen die erste Ergebnisse der Wettbörse vor.

Was folgt daraus für den 26. September 2021?
Zwei Prognose-Tools und eine Wettbörse legen ein Ja zur „Ehe für alle“ und ein Nein zur 99%-Initiative nahe. Erwartet wird ein Ja-Anteil im Bereich von 30-40%. Bei der Ehe für alle gehen die Prognosen von 57 Prozent Zustimmung aus.Die Wettbörse ist gegenwärtig etwas optimistischer.
Bald wissen wir auch, was die Umfragen vorerst sagen. Doch sind das dann keine Prognosen, sondern professionell gemacht Momentaufnahmen. Bis Trends und damit Annahmen über die Dynamik der Meinungsbildung vorliegen, wird es noch etwas dauern.

Claude Longchamp