Was das Stimmrechtsalter 16 politisch mit sich bringt. Erfahrungen aus 5 Ländern,und der Schweiz zwischen Hoffnungen und Ängste in der Schweiz

Kolumne für swissinfo, erschien am 5. Febr. 2021


Die Überalterung der Bevölkerung stärkt die Anliegen der Alten. Die Jungen werden unzufriedener. Wenn sie mitbestimmen können, glättet das den Graben – zumindest ein wenig. Eine Analyse.

Staaten wie Brasilien, Argentinien, Equador, Nicaragua und Cuba kennen das Wahlrechtsalter 16. In Europa kommen Österreich, Malta, Schottland und Wales hinzu. Am häufigsten bekommt man weltweit die politischen Rechte aber mit 18 Jahren. Das gilt weitgehend auch für die Schweiz.
Der Kanton Glarus ist die interessante Ausnahme. Er führte 2007 das aktive Stimm- und Wahlrecht für 16 und 17jährige auf Kantons- und Gemeindeebene ein. Um selber gewählt zu werden, müssen sie aber weiterhin 18 sein. Die Erfahrungen 14 Jahre nach der Einführung sind durchwegs gut, sagen die viele Glarner und Glarnerinnen. Und sie sind dabei ein wenig Stolz.

Jetzt wird es auch in der Schweiz konkret
Nach dem Schweizer Nationalrat hiess diese Woche auch die Staatspolitische Kommission des Ständerats einen Vorstoss für das aktive Stimm- und Wahlrecht 16 auf Bundesebene gut. Er geht zurück auf eine parlamentarische Initiative der Basler Nationalrätin Sibel Arslan von den Grünen.
Mit 7 zu 6 fiel die Entscheidung allerdings knapp aus. Doch Mehrheit ist Mehrheit! Damit hat sich die ständerätliche Kommission beauftragt, einen Verfassungsartikel auszuarbeiten, der den Politikwechsel ermöglichen soll.
Zum Bundesrat gewählt werden, wird auch morgen keine 16jährige Person. Aber wählen und abstimmen dürfte für sie vielleicht schon Ende Legislaturperiode möglich sein – vorausgesetzt, das Parlament und die Stimmberechtigten bewilligen die eingeleitete Verfassungsänderung.

Lehren aus dem Ausland
Die einzige vergleichende Untersuchung aus fünf Ländern mit Wahlrecht 16 kommt zum Schluss, dass die Wahlbeteiligung in Ländern mit der Senkung höher ist als in solchen ohne. Je mehr Menschen politische Rechte haben, umso mehr fühlen sich alle von der Politik angezogen. Auch bei jungen Menschen ist die Wahlbeteiligung höher, wenn man ihnen die politischen Rechte gewährt.
Ob das dauerhaft der Fall ist, weiss man allerdings nicht. Denn nur wenige, die mit 16 erstmals wählen konnten, sind heute über 30 Jahre alt.
Senkungen des Wahlrechtsalters, so das zweite Hauptergebnis der Studie, machen nicht alles unsicherer. Die Forschung konnte bisher keine systematisch erhöhte Volatilität als Folge des verminderten Wahlrechtsalters nachweisen – jedenfalls nicht in den lateinamerikanischen Ländern.
Davon weicht Österreich etwas ab. Da stimmen die ganz jungen Wählenden vermehrt für die Opposition, ohne eine bestimmte Partei dauerhaft zu bevorzugen. Nutzniesserinnen sind fallweise die Grünen oder die FPÖ.

Wahlen: Hang zur Opposition – egal welche
Für die Schweiz gibt es keine ebenbürtige Vergleichsstudie. Denn noch gibt keine regelmässigen repräsentativen Befragungen bei 16- und 17jährigen. Wird diese Altersgruppe in nationalen Befragungen berücksichtigt, fallen die Unterschiede zu den anderen jungen Menschen meist gering aus. Faktisch würde ein Stimm- und Wahlrecht 16 die unter 25jährigen etwas verstärken.
2019 legten vor allem die beiden grünen Parteien bei den unter 35jährigen zu. 2015 war da die SVP die stärkste Partei. Das bestätigt die Ergebnisse aus dem Nachbarland: Vom Wahlrechtsalter 16 profitieren Parteien, die ein Thema aufgreifen, das institutionell vernachlässigt wird. Wo sie politisch stehen, ist ziemlich egal. Hauptsache Opposition.
Meine Prognose hier: Das Wahlrecht 16 wäre bei Schweizer Wahlen wohl ein schwacher Verstärker, sicher aber keine Ursache für Veränderungen.

Abstimmungen: das Votum der Besitzlosen
Bei Volksabstimmungen ist der Zusammenhang zwischen Alter und Stimmabgabe etwas gewichtiger. Eine Auswertung der letzten Legislaturperiode zeigt, dass die über 60jährigen nur einziges Mal oder in gerade 3 Prozent der Fälle nicht in der Volksmehrheit waren.
Ganz anders sieht es aus Sicht der unter 30jährigen aus. Sie wurden in jeder fünften Volksabstimmung in die Minderheit versetzt. Das ist fast sieben Mal häufiger als bei den über 60jährigen!
Interessant sind auch die Unterschiede in den betroffenen Vorlagen. Es handelt sich durchwegs um Umwelt-, Sozial- oder Grundrechtsfragen. Jüngere Menschen haben durchaus ein Interesse, sich mit einer Senkung des Stimmrechtsalters zu verstärken. Sie sind die «Nicht-Besitzenden». Ältere sind die «Besitzenden». Ihre Interessenlage ist anders.
Neue Akzente von rechts bis links
Etwas verschieben würde das Stimmrechtsalter 16 in der Schweiz die Gewichte der verschiedenen Altersgruppen. Denn zu den knapp 5,5 Mio. Stimmberechtigten kämen 130’000 hinzu. Das sind 2.6%. Stimmten sie alle ganz anders alle über 18, gäben sie Entscheidungen zwischen 47.4 bis 52.6 den Ausschlag. Nur ist die Annahme rein hypothetischer Natur.
Anders ausfallen würden drei Akzente:
• Die Interessen der Jüngeren würden bei der Reform der Altersvorsorge etwas gestärkt zum Ausdruck kommen.
• Werthaltungen den nachstossenden Generationen würden etwa in der Klimafrage aufgewertet.
• Schliesslich würde die Unterstützung von Forderungen nach mehr sozialer Kontrolle, die speziell junge Menschen treffen, abgeschwächt.
Das merken jüngere Menschen intuitiv. Deshalb engagieren sie sich vermehrt für eine Reform der Altersvorsorge, wenn sie mitte-rechts stehen. Sie sind auf linker Seite in der Klimastreikbewegung aktiver. Und sie sammeln sie quer durch die politischen Landschaft Unterschriften gegen das anstehende Terrorismusgesetz in grossen Mengen.

Unzufriedenheit weniger schlimm als Fatalismus
Man kann das alles als Zeichen einer steigenden Unzufriedenheit mit einer Gesellschaft sehen, die durch Überalterung fortlaufend die Älteren gegenüber den Jüngeren stärkt. Das ist in der Schweiz stark der Fall. Nur Italien und Japan haben weltweit einen noch höheren Altersdurchschnitt.
Selbst höhere Beteiligungsrate der jungen Menschen können das nicht ausgleichen. Denn die gesellschaftliche Altersverteilung ist die Ursache.
Die Alternative zur angemeldeten Unzufriedenheit reformwilliger jungen Menschen wäre demokratiepolitisch fatal. Sie würde bedeuten, dass sich nachfolgende Generationen ganz aus politischen Entscheidungen ausklinken könnten. Nach dem Motto: «Du hast keine Chance, lasse es lieber gleich sein!»
Stimmrecht 16 ist hierzu eine Gegenmassnahme. Eine höchst moderate.