„Wir beobachten eine neue Mischform aus Demokratie und Autoritarismus.“

Gestern war ich im Interview mit der „Wiener Zeitung“. Nächste Woche bin ich auf dem großen Demokratie-Podium des SORA-Instituts in Wien.

„Wiener Zeitung“: Herr Longchamp, in was für Zeiten leben wir?

Claude Longchamp: Auf jeden Fall in widersprüchlichen. Wir haben seit den 1970ern in vielen Ländern einen Trend zu mehr Demokratie, Freiheit und Liberalismus erlebt. Seit zehn Jahren ist diese Entwicklung ins Stocken geraten, manche sprechen sogar von einem „Backlash“, einem Rückschritt. Konservative Werte erleben auf jeden Fall eine Renaissance. Und wir beobachten das Aufkommen einer neuen Mischform aus Demokratie und Autoritarismus, die wir vor zehn Jahren noch gar nicht gekannt haben.

Viel ist von der Gefährdung der Demokratie die Rede. Ist der Alarmismus gerechtfertigt, mit der eine liberale Öffentlichkeit auf diese Entwicklung reagiert?
Wenn man geglaubt hat, dass die Entwicklung hin zu einer liberalen Demokratie ein universalhistorischer Prozess ist, dass sich also die Demokratie auch unabhängig von lokalen, politisch-kulturellen Bedingungen so entwickelt, dann ist Alarmismus angebracht. Wenn man keine so idealistischen Erwartungen hat, kann man auch die Auffassung vertreten, dass eine übertrieben optimistische Interpretation nun in eine übertrieben pessimistische gekippt ist. Man kann alles, was einem politisch nicht gefällt, durch eine alarmistische Brille betrachten, aber wir sollten nicht übersehen, dass mehr als die Hälfte aller Staaten demokratisch oder zumindest semi-demokratische Strukturen besitzt. Historisch gesehen ist das ein absoluter Höhepunkt. Was sich nicht durchgesetzt hat, ist die Hoffnung, dass bereits Wahlen ausreichen, damit sich in einem Land zur Demokratie wird. Demokratie besteht auch aus Werten und Institutionen. Und richtig ist auch, dass wir mancherorts eine Autokratisierung der Demokratien erleben, die durch zumindest halbdemokratische Wahlen legitimiert wird.

Das Phänomen starker Persönlichkeiten mit demokratischer Legitimation prägte auch die Demokratieentwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg: de Gaulle, Adenauer, Strauß, Schmidt, Kohl oder Mitterand, auch viele der ersten und zweiten Politikergeneration in Österreich nach 1945 hatten autoritäre Züge. Was ist jetzt neu?
Was stimmt, ist, dass eine gewisse Autorität in den genannten Persönlichkeiten steckte, die man vielleicht in den aktuell diskutierten Zusammenhang stellen könnte. Allerdings sehe ich einen wichtigen Unterschied: Die damalige Generation war durch den Zweiten Weltkrieg geprägt, was zu einer klaren Ablehnung aller nicht-demokratischen und totalitäre Entwicklungen führte. Heute fehlt eine entsprechend klare Abgrenzung zu undemokratischen, illiberalen Politikformen. Das zeigt sich bei drei neuralgischen Punkten immer wieder: bei der Unabhängigkeit von Justiz, Medien und Wissenschaft. Bei der Nachkriegsgeneration, anders als in der Gegenwart, wären diese nie in Frage gestellt worden. Heute erleben wir einen Allmachtsanspruch: Einmal an der Macht, wird darauf hingearbeitet, einen neuerlichen Regierungswechsel zu verhindern.

Ist die Verführbarkeit in diese Richtung eine exklusiv rechte, rechtspopulistische Eigenschaft oder ist sie eine Versuchung für jede Politik?
Diese Verführbarkeit zum Autoritarismus gibt es auf beiden Seiten des politischen Spektrums, allerdings nicht in gleicher Hinsicht. Der Bezugspunkt für Rechtspopulisten ist stets die Rettung der Nation vor Fremden, bei den Linkspopulisten ist es die Klasse, die ausgebeutet wirde. In den Formen der Machtausübung geht es in die gleiche Richtung. In Europa dominiert aktuell jedoch eindeutig die rechte Variante, denken Sie etwa an Polen, Ungarn, die Türkei, Russland oder Serbien. In Lateinamerika, vor allem in Venezuela, zeigt sich, dass auch der Linkspopulismus die Demokratie zurückdrängen will und kann.

In einer Festrede haben Sie kürzlich gesagt, dass „schweizerische Regierungskunst uns lehrt, die relevanten Kräfte in die Regierung einzubinden“. Gilt diese Erkenntnis nur für den politischen Sonderfall Schweiz?
Die Schweiz ist in dieser Hinsicht tatsächlich besonders, dort, wo es zu einer homogenen Nationsbildung gekommen ist, haben sich andere politische Kulturen und System mit Regierung und Opposition entwickelt. Mit der Konzentrationsregierung lebt die Schweiz eine ausgesprochen inklusive politische Kultur, die alle grösseren Parteien in die geteilte Regierungsverantwortung mit einschließt.

Das Aufkommen der rechtspopulistischen SVP unter Christoph Blocher hat diese Inklusionskultur in den 1990ern einem Stresstest ausgesetzt. Lange kämpften die anderen Parteien gegen eine Aufnahme der SVP in die Regierung. In Österreich tobt bis heute der Streit, ob die FPÖ eine legitime Regierungspartei ist.
Sie treffen den wunden Punkt meiner Argumentation. Die SVP war viel stärker, so lange sie nicht in die Regierung integriert war, weil sie als reines Oppositionsinstrument fungierte und mit den Mitteln der direkten Demokratie die Europa- und Migrationspolitik blockieren konnte. Aber die Diskussion mit der SVP ist auch in dieser Zeit nie abgerissen, und am Ende hat die Partei eingesehen, dass polarisierende Personen keine Rolle als Regierungsmitglied haben können. Heute verfolgt die SVP als eine in das System integrierte Partei rechtskonservative Politik.

In Österreich ist die Frage noch offen, ob das System die FPÖ durch Einbindung mäßigt oder selbst radikalisiert wird.
Wahrscheinlich geschieht ein bisschen von Beidem; ich halte die Mäßigungsthese für stärker, vor allem, wenn einmal das Thema Migration aus dem Fokus verschwindet. Zuwanderung ist das große Reizthema. Darüber hinaus ist die Frage nach illiberaler Institutionenpolitik von Belang. Davon abgesehen halte ich das Potenzial der FPÖ für begrenzt, so lange es nicht zu einem europäischen Sinneswandel kommt, bei dem auch de FPÖ eine Rolle spielen kann.

Wir erleben ein doppeltes Misstrauen: Nicht nur die Bürger haben den Eliten das Vertrauen entzogen, auch die Eliten halten die Bürger für permanent verführbar.
Bei der Gründung des Schweizer Bundesstaats im 19. Jahrhundert war das Vertrauen der liberalen Eliten in die konservativen Bürger extrem gering; ein Nachgeben der Forderungen aus dem Volk wurde deshalb als Abgehen vom Modernisierungsprozess angesehen. Mit der Einführung der Volksentscheide wurde tatsächlich die Opposition massiv gestärkt, was zu einer Krise des Regierungssystems führte, weil die Eliten noch nicht gelernt hatten, sich auf die neue Situation einzustellen. Die politische Mehrheit musste auf die politische Minderheit zugehen. Heute können wir beobachten, dass je öfter wir abstimmen, desto häufiger setzt sich die Regierung durch. Diese Lernerfahrung haben die Eliten in vielen anderen Staaten noch vor sich. Kooperative Formen können die Demokratie und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit stärken, dazu müssen aber die Eliten erkennen, dass nicht alle Ideen, die vom Volk kommen, negativ bewertet werden.