Roboter auf Twitter in Schweizer Abstimmungskämpfen: Mythen und Fakten

5259 Twitter-Accounts waren in den letzten 10 Tagen vor der Volksinitiative für einen sofortigen Atomausstieg aktiv. Eine neue Untersuchung legt nahe, dass davon 96 Accounts Bots oder Cyborgs waren.

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Von rechts nach links: Tatjana Doba, Martina Gsteiger, Melanie Ivankovic bei der Präsentation der Forschungsarbeit letzten Freitag

Als Bots gelten aktive, aber maschinengesteuerte Twitter-Adressen. Cyborgs wiederum funktionieren als Kombination von Mensch und Maschine. Seit 2014 sind solche Roboter oder roboterisierte Adressen ein Thema der SocialMedia-Kritik. In der Ukraine, in Grossbritannien und in den USA wird ihnen vorgeworfen, beispielsweise die Twittersphäre nachhaltig zu manipulieren. Die Literatur geht von 10 Prozent Bots aus und ein Drittel könne als Cyborg klassiert werden.
Die erste Untersuchung zur Schweizer Twittersphäre anhand der Atomausstiegsinitiative kommt zu deutlich zurückhaltenderen Schlüssen. Gängige Prüftools wie @BotorNot identifizierten in der Tat knapp 600 verdächtige Adressen, was einem Anteil von 11 Prozent entsprechen würde. Eine aufwändige, individuelle Nachkontrolle dieser Accounts reduzierte die Zahl jedoch auf unter 100. Das wären dann noch 2 Prozent Bots und Cyborgs.
Ein typischer, ausgesprochen aktiver Bot ist «@polittweets», der sich auch offen als solcher zu erkennen gibt. Er retweetet meist einmal im Tag einen populären Tweet. Eine Zuordnung zu einem politischen Lager gelingt hier nicht. Andere wie @Toxic_linkTruca arbeiten verdeckter. In aller Regel retweeten aber auch sie, doch bevorzugen sie einzelne Aspekte, die sie in sonst wenig politische Netzwerke einspeisen. Bots, die Texte erfinden, sind in der Schweiz noch kaum verbreitet. Cyborgs wiederum dürften mit maschinellen Recherchen der Twittersphäre arbeiten; die Distribution dürfte jedoch menschlich ausgelöst werden.
Betroffen von Twitter-Maschinen waren im untersuchten Beispiel sowohl Befürworter wie auch Gegner der Atomausstiegsinitiative. Selbst Accounts, die sich auf unabhängige Informationsverbreitung spezialisiert hatten, sind für Bots und Cyborgs interessant.
Accounts wie «@sauber_sicher», aber auch @Atomausstieg_Ja kannten am meisten Roboter unter ihren Followern. Das gilt tendenziell auch für @SVPch und @AAI_Nein oder @Greenpeace und @WWF. Es kann durchaus bezweifelt werden, dass diese Absender die Bots selber eingesetzt haben. Vielmehr ist wahrscheinlich, dass die Roboter lernen, gesuchte Informationen an bestimmten Orten des Internets zu identifizieren.
Das hat auch mit einer Eigenheit der politischen Kommunikation bei Abstimmungen zu tun. Anders als bei Wahlen ändern die Themen im Drei-Monats-Rhythmus. Zahlreiche der parteiischen Accounts erreichen somit nur geringe Follower-Zahlen, was sie für Verstärker attraktiv macht. Bei Wahlen geht es um anderes. Hier sollen Parteien, die dauern aktiv sind, nachhaltig in bestimmte Zielgruppen ausstrahlen. Das macht den strategischen Einsatz von Robotern interessanter.
Die teils Aufsehen erregenden Befunde in Massenmedien und Fachliteratur zu Roboter-getriebenen Adressen müssen für die Schweiz relativiert werden. Richtig ist, dass sich in der Twittersphäre Bots am politischen Diskurs beteiligen. In erster Linie verstärken sie vorhandene Informationen oder Meinungsäusserungen. Es ist jedoch denkbar, dass sich die Entwicklung erst am Anfang befindet. Entsprechend bin ich bestrebt, die gelegten Grundlagen am Beispiel der Abstimmung über die Energiestrategie 2050 zu konkretisieren.

Claude Longchamp

Tatjana Doba, Martina Gsteiger, Melanie Ivankovic: Social Bots in der Debatte zum Atomausstieg. Semesterarbeit im Rahmen des Seminars «Digitale Revolution der politischen Kommunikation» von Claude Longchamp, IPW Uni Bern 2017.