Der Forschungsprozess in der Praxis

Der fünfte Tag meiner Veranstaltung “Empirische Politikforschung in der Praxis” an der Universität St. Gallen beschäftigt sich mit dem Forschungsprozess. Behandelt werden Ausarbeitung einer Fragestellung, die Recherche in der bestehenden Literatur und Formulierung eines adäquaten Projektes, das nach der Logik der Forschung durchgeführt wird.

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Wissenschaftsstheoretisch ist man bei der Konzipierung von sozialwissenschaftlichen Forschungsprozessen weit. In der Praxis sind die Probleme jedoch meist grösser als in der Theorie angenommen. Das gilt insbesondere für den Prozess der angewandten Forschung, der sich von jenem der Grundlagenforschung in mindestens dreierlei Hinsicht unterscheidet:

1. Faktor “Zeit”: In der Grundlagenforschung hat man meist Zeit, viel Zeit. In der angewandten Forscshung ist das selten so. Die rasche Verfügbarkeit von Ergebnissen ist ein wesentlicher Grund, weshalb man entsprechende Forschung in Auftrag gibt. Wenn es keine spezifischen Theorien und Vorbildstudien gibt, zählt genau deshalb die Erfahrung der Forschungsleitung oder des Forschungsteams. Sie muss helfen, sinnvoll bearbeitbare Fragestellungen zu entwickeln, den Aufwand für zu erstellende oder zu bearbeitende Datensätze abzuschätzen und ein Konzept für die Berichterstattung auszuarbeiten.

2. Faktor “Geld”: Die zweite Einschränkung ergibt aus den Kosten. Die Budgets in der angewandten Forschung sind häufig deutlich kleiner, als in der Grundlagenforschung Das verlangt, sich klarer festzulegen: Ziele vorzugehen, nicht erst zu entwickeln, Arbeitsschritte detailliert zu planen, nicht ad hoc entstehen zu lassen, Verantwortlichkeiten persönlich festzulegen und nicht der individuellen Neigung zu überlassen. Die Optimierung des Forschungsprozesses ist eine permanente Aufgabe gerade von Forschungsinstituten. Inhatliche Ziele, zeitliche Restriktionen und finanzielle Mittel müssen stets im Verbund miteinander bedacht werden. Das Wissen, das für das Projektmanagement erarbeitet wurde, muss hier zwingend integriert werden.

3. Faktor “Kommunikation”: Projekte der Grundlagenforschung sind darauf aus, Artikel in angesehenen Fachzeitschriften publizieren zu können, Schlussberichte an die Adresse Forschungsförderungsagentur zu schreiben und wenn möglich, mit akademischen Arbeiten höhere akademische Grade zu erwerben. Die Kommunikation gegenüber einer spezifischen Kundschaft und auch gegenüber der Oeffentlichkeit als unspezifischer Kundschaft steht im Hintergrund. Das verändert sich in der angewandten Forschung massiv. Die Kommunikation von Ergebnisse ist nicht einfach eine dem Forschungsprozess nachgelagerte, freiwillige Phase; sie ist ein konstitutives Element des Forschungsprozesses selber. Sie muss stets mitbedacht werden; sie muss in ihren spezifischen Formen eingeübt werden, und sie befruchtet so auch die Generierung von verwertbarem Wissen.

Es kommt immer wieder vor, dass ich bei neueintretenden ProjektleiterInnen in unserem Institut, die universitäre Forschung kannten, zuerst ein grosses Staunen erlebt. Liegt ein neuer Datensatz vor, möchten sie sich am liebsten in kleine Kämmerlein zurückziehen, und wenn möglich ein Jahr für sich arbeiten können. Das geht eigentlich nie! Es ist deshalb die Aufgabe von forgeschrittenen ForschungsleiterInnen klar festzulegen, was wann und gegenüber wem kommuniziert wird. Zwischenergebnisse dienen nicht dazu, neue Fragen aufzuwerfen, sondern bestehende zu beantworten. Ich habe nur wenige Projekte erlebt, bei denen man nicht gleich von Beginn weg das erwartbare Ergebnis des Studie nicht Schritt für Schritt mitbedacht hätte.

Am kommenden Freitag geht es mir zuerst darum, die Logik der Forschung, wie sie von der Wissenschaftstheorie erarbeitet worden ist, in die Praxis umzusetzen. Ich werde mich bemühen, die Diskussionen stets im Spannungsfeld von Grundlagen- und angewandter Forschung zu halten.

Claude Longchamp

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