Kurzer Rückblick auf heute (IV)

(zoon politicon) Wie angekündigt, heute ging’s in meiner St. Galler Vorlesung um politische Kultur. Mir war von Beginn weg klar, dass der Begriff nicht einfach zu erläutern sein würde. Deshalb nochmals ein Versuch im Rückblick.

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Advico Young & Rubicam: lass es nicht soweit kommen! oder Der Auf an jeden, die Schweiz stets zu erneuern.

Wissenschaftliche Begriffsbestimmungen
Anders als im politischen Alltagsgebrauch, ist die sozialwissenschaftliche Begriffsverwendung meist zurückhaltender und politisch neutraler. In der Regel versteht man darunter einen Verbund von Werten und Normen gegenüber politischen Objekten. Es geht um grundlegende Einstellungen zum Staat, zu seinen Leistungen und seinen Beeinflussungsmöglichkeiten, nicht um Meinungen in Sachfragen. Und es geht ums Bild, das wir uns von uns als Kollektiv und als Individuen in der Politik machen.

Das ist, vereinfacht gesagt, das klassische Verständnis von politischer Kultur. Es ist auf Massenkulturen ausgericht. Es will politische Kultur an den Denkweisen der Einzelnen dingfest machen. Mengen von Daten sind so über Befragung ermittelt und auf verschiedene Arten und Weisen verdichtet, kombiniert und typisiert worden, ohne dass man sicher ist, ob man damit politische Kulturen versteht. Vor allem mangelt es auf dieser Basis bis heute an eigentlichen Erklärungsmodellen für den Wandel politische Kultur. Meist begnügt man sich damit, die wirtschaftliche Entwicklung als Ursache anzunehmen.

Das andere Verständnis von politischer Kultur ist nicht behavioristisch. Vielmehr rekonstruiert es politische Kultur aus der Geschichte, den zurückliegenden Konflikten, den vorbildhaften Lösungen, die hierzu gefunden worden sind und Staaten begründet haben. Das Handeln aller Akteure, die daran beteiligt waren, interessiert da viel mehr als das der einzelnen Individuen. Denn die Verändungen im Handeln der Akteure sind es, die den politkulturellen Wandel sichtbar machen.

Mein Ziel der heutigen Vorlesung
Die heutige Vorlesung wollte zeigen, dass es in der Erforschung politischer Kulturen kein allgemein anerkanntes Paradigma gibt. Es gibt maximal verschiedenartige Konzepte der Forschung, die leider meist wenig verbunden nebeneinander stehen.

Ihnen gemeinsam ist aber, dass man politische Kulturen wohl besser im Plural gebrauchen sollte, als Kennzeichnung von Eigenschaften, die einem erst im Vergleich beispielsweise von Staten bewusst werden. Politische Kulturen sind so definiert Charakteristiken von verschiedenartigen politischen Verbänden. Sie finden sich in Verfassungen von Staaten mit den Muster garantierten Werten. Sie lassen sich an Institutionen ableiten, wie sie ausgestaltet und zueinander in Verbindung stehen. Politische Kultur ergibt sich zunächst aus dem Typ der Herrschaft. Die Demokratie und Diktatur sind bis heute die wichtigsten Herrschaftsformen, die aus ganz anderen, gegensätzlichen Kulturen hervorgegangen sind resp. die begründen. Geschichte und Gegenwart sind dabei von Belang.

Politische Kulturen sind nicht statisch. Ihre allgemeine Dynamik wird durch wichtige Entscheidungen bestimmt. Die Akteure, die sich dabei äussern, verändern die politische Kultur eines politischen Verbandes wie jene eines Staates dann, wenn sie sich ganz bewusst von verherrschenden Einstellungen innerhalb des Verbandes abgrenzen und versucht sind, neue Einstellungen durchsetzen. Das gelingt ihnen heute am besten mittels dramatisch eskalierenden politischen Kämpfen, die massenmedial vermittelt werden. Es gelingt ihnen besonders dann, nachhaltig Einfluss zu nehmen, wenn sie eine neue Generationen mit neuen Einstellungen prägen können. Kommen diese Generationen innerhalb des Verband an die Macht, handeln sie bewusst oder und bewusst im Sinne ihrer eigenen Deutungskulturen.

Mein Deutung der politischen Kultur der Schweiz im Wandel
Die dominanten Deutungskulturen in der Schweiz sind aktuell in Bewegung; das ist offensichtlich. Insofern bewegt sich heute etwas: Sozialliberale Interpretatuonen der Schweiz, die im urban-intellektuellen Milieu im Schwang sind, werden durch neoliberale Interpretationen der Wirtschaftseliten einerseits, nationalkonservativen Deutung der Volkskultur anderseits konkurrenziert.

Ob dabei auch schon die Grundfesten der politischen Kultur der Schweiz in Bewegung geraten sind, kann man indessen bezweifeln. In der politischen Kultur der Schweiz tief geronnene Strukturen wie der Föderalismus, wie auch die direkte Demokratie verändern sich kaum. Sie begründen unverändert die Konkordanzkultur des politischen Systems der Schweiz, mit der sich die Vertreter aller konkurrierenden Deutungskulturen auseinandersetzen müssen. Sie können ihr Defekte zufügen, und sie können auch versucht sein, wie wieder zu perfektionieren.

Claude Longchamp