Erosion und Neueinbindung der WählerInnen im Kanton Bern

Das Parteiensystem des Kanton Bern ist in den letzten 40 Jahren zwei Mal erschüttert worden. Vom ersten Beben 1886 konnte die Linke profitieren. Das zweite war 2010 mit der Entstehung der BDP. Noch ist nicht klar, was daraus wird.

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“Dealignment” und “realignment” gehören zu den Hauptkonzepten der politikwissenschaftlichen Wahlanalyse. Dealignment meint Erosion von Parteibindungen; realignment bezeichnet Neueinbindungen. Hintergrund der Konzepte ist die Theorie der Konfliktlinien. Demnach sind (westliche) Gesellschaften entlang kultureller und sozialer Brüche gespalten. In der Vergangenheit entstanden, wirken solche Trennlinien nach, wenn sie von exemplarischer Natur sind und wenn sie von politischen Gruppierungen mehr als über den Moment hinaus organisiert werden.

Konfliktlinien im Kanton Bern

Die wichtigsten Konfliktlinien im Parteiensystem des Kantons Bern sind die Links/Rechts-Achse mit den Gegensatz zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft sowie der Widerspruch zwischen Konservatismus und Liberalismus. Erosion von Parteibindungen meint in diesem Zusammenhang, dass die Strahlkraft dieser zentralen Ideologien nachlässt. Neueinbindung meint das Gegenteil, denn in dieser Perspektive kommt zu neuen weltanschaulichen Allianzen zwischen neuen oder erneuerten Parteien einerseits, bestimmten Gesellschaftsgruppen anderseits.
Zweifelsohne war die Wahl von 1986 ein zentraler Einschnitt: Im Vorfeld dominierte die Auseinandersetzung zu den “schwarzen Kassen”, deren sich Kanton bei der Umsetzung der Trennung des Kantons Jura bedient hatte. Die Finanzrevision brachte dies ans Tageslicht und löste damit eine Welle der Empörung aus. Geschadet hat diese Wahl vor allem der SVP, bis dahin die unbestritten führende Kraft im Kanton Bern. Einerseits sank die Wahlbeteiligung um 7 Prozentpunkte ab. Anderseits wurden die drei damaligen Regierungsparteien geschwächt, am meisten die SVP, etwas weniger die FDP und SP.

Der Einschnitt von 1986

Schlagartig etablierten sich 1986 die Grünen, vor allem in Form der Grünen Freien Liste. Zwei Gründe waren massgeblich: Die personalpolitische Erneuerung, die Führung durch Leni Robert, der ersten Regierungsrätin im Kanton, und die Anlehnung an die Oekologisierung politischer Ideen, 1984 durch die Debatte über das Waldsterben populär geworden.
Rückblickend gesehen profitierte von der 1986er Wahl vor allem die SP. Ihr gelang es als einziger grosser Partei, sich von Wahl zu Wahl zu verstärken. Sie erneuerte sich, vor allem durch die Feminisierung der Politik, womit die Selbstentfaltung der Menschen jenseits kollektivistischer Ideen der Linke in Schwang kam.
Doch nicht nur die SP war Nutzniesserin dieses Einschnitts. 2002 ging die Erneuerung der SP über an die die Grünen, klarer links positioniert, aber in verschiedene Richtungen aufteilt. Nun waren sie es, die spektakulären Wahlerfolge feierten, teils zulasten der SP. Zusammen reichte es aber, um dass die personell erneuerte Linke 2006 die Regierungsmehrheit übernahm.

Der Einschnitt von 2010
2010 war der zweite Donnerschlag im Parteiensystem des Kantons. 16 Prozent Wählende auf Anhieb ist bernischer Rekord. Dafür zuständig war namentlich die BDP. 2008 als Abspaltung der SVP entstanden, die im Gefolge der Abwahl von Christoph Blocher aus dem Bundesrat auch im Kanton Bern eine Oppositionspolitik gegen die linke Regierungsmehrheit führte, bildet sich vor allem aus den regierungstreuen Kräften in der Fraktion eine neue Kraft, die bei ihrem ersten Auftritt nicht nur eine unerwartete Stärke erreichte, sondern unzufriedene WählerInnen im gemässigten Spektrum von rechts bis links an sich zog. Hinzu kam das erstmalige Auftreten der GLP, die namentlich im Mitte/Links-Spektrum für Neueinbindungen sorgte.

Weitere Neueinbindungen
Die Wahlen 2006 und 2010 waren zudem durch eine leicht steigende Wahlbeteiligung gekennzeichnet. Hatte diese seit Einführung des Frauenstimm- und Wahlrechts stets leicht nachgelassen, kam es nun durch neue Angebote in der Parteienlandschaft, aber auch durch neue Formen der Mobilisierung zu einer Trendwende in der Teilnahme an Wahlen.
Eine weitere, weniger spektakuläre Form der Neueinbindung findet sich seit den 80er Jahren im konservativen Spektrum. Denn mit der EVP und der EDU konnten sich zwei, religiös fundierte Parteien platzieren, eine eher rechtkonservativ, eine mehr in der konservativen Mitte politisierend. Gebremst wurde ihr fast kontinuierlicher Anstieg erst 2010, wohl wegen der Konkurrenz durch die BDP.

Bilanz
Die Bilanz: Das Parteiensystem im Kanton Bern hat sich in den letzten 40 Jahren zweimal gehäutet:
1986 und 2010. Die erste Häutung nütze der linken, die wählermässig gestärkt und personell erneuert bei Regierungsratswahlen mehrheitsfähig wurde. Eine neue Herausforderung für Rotgrün ergab sich 2010 mit der GLP.
Die zweite Häutung ist jüngeren Datums, denn sie wurde im Wesentlichen durch die Gründung der BDP eingeleitet. Aktuell stecken wir mitten drin. Elektoral gab es bei der letzten Grossratswahl eine kräftige Unterstützung für die neue Kraft. Personell blieb die Erneuerung aber zurück, und auch weltanschaulich ist die BDP keine Innovation, denn sie setzt eher den staatstreuen, bürgerlichen Kurs der früheren BGB fort.
Wie weit sich daraus auch eine Neueinbindung von WählerInnen ergeben hat, bleibt vorerst offen. Denkbar sind drei Szenarien: Dass sich eine dritte bürgerliche Kraft zwischen rechts und der Mitte etabliert; dass die BDP mittelfristig die FDP beerbt; nicht ausschliessen kann man, dass die BDP nur eine vorübergehende Erscheinung war, die bei ihrem ersten Auftritt gleich auch ihren Höhepunkt hatte.

Oder anders gesagt: Die Bindungen der WählerInnen an die politsichen Parteien werden in Zyklen erschüttert. Entsprechend hat sich das klassische Parteiensystem des Kantons Bern ausdifferenziert. Erfasst wurde davon zuerst die Linke, die durch weltanschauliche und personelle Erneuerung wenigstens bei Regierungratswahlen mehrheitsfähig wurde. Gegenwärtig ist die bürgerlichen Seite dabei, ihre Spaltung von 2008 zu verarbeiten, mit dem Wunsch, ihrerseits wieder im Regierungsrat mehrheitsfähig zu werden.

Claude Longchamp