Wenn Tote Wahlen gewinnen

Am letzten Freitag hielt ich im Rahmen der Zürcher Uni-Lehrveranstaltung zur “Wahlforschung in Theorie und Praxis” meine Vorlesung zur Mediendemokratie. Gebraucht wird der Begriff, um substanzielle Veränderungen im Wahlgeschehen zu beschreiben, die durch Medien wie Fernsehen und Internet ausgelöst werden. Und er dient auch als Interpretationsrahmen für neue Phänomene.

Zu den Thesen, die im Zusammenhang mit der Mediendemokratie diskutiert werden, gehören die Medialisierung der Politik als Voraussetzung, die Veränderungen des Wahlentscheides durch Potenzierung von Effekte der Entscheidungen über Themen und Personen, ebenso wie aufgrund eines medial erzeugten Klimas. Nicht zuletzt wird davon auch das Stimmungselement abgeleitet.
Als Belege hierfür habe ich die Obama-Wahl von 2008, die Wahl von François Hollande vor Jahresfrist, und der Erfolg von Beppe Grillo in der jüngsten Wahl in Italien erwähnt. Sie alle waren durch starke Personenorientierungen geprägt, die Parteibindungen überlagern sollten. Sie alle entwickelten ein eigentliches Kampagnenmoment, das zum treibenden Faktor der Wahlentscheidung wurde. Und sie lösten die grossen Hoffnungen, die mit der Wahl verbunden wurden, allesamt nicht ein.
Zu meinen Trends in heutigen Wahlkämpfen der Schweiz zählte ich am Freitag die Entstehung von Super-Kampagnen, die nicht nur einer Partei ein Profil, sondern einer Wahl insgesamt eine Bedeutung verleihen. Ich nannte die Radikalisierung der politischen Auseinandersetzung zum Beispiel zu harten Themen wie AusländerInnen oder Kernenergie. Wahlkämpfe finden dabei nicht mehr in geschlossenen Räumen statt, sondern haben bisweilen internationale Ausstrahlung, und das internationale Geschehen beeinflusst sie selbst im Lokalen. Das entsteht mitunter auch durch crossmediale Inszenierungen, vorgenommen von interessierten Akteuren, die sich der Skandalisierung, Dramatisierung, Personalisierung und Emotionalisierung bedienen, um vor einer Wahl ein vorherrschendes Stimmungsmoment zu erzeugen.

Last but not least, erwähnte ich die mit der Medialisierung von Wahlkämpfen verbundene Virtualisierung von Wahlentscheidungen.

Als typische Beispiele hierfür nannte ich die Aargauer Wahlen von 2006, als Doris Leuthart alle Plakate zierte, obwohl sie weder fürs Kantonsparlament, noch für die Aargauer Regierung kandidierte, der CVP aber einen der wenigen Wahlerfolge brachte. Erwähnt habe ich auch die “Bundesratswahl” von Christoph Blocher, der den Nationalrats-Wahlkampf 2007 der SVP mit dem Slogan dominierte, SVP wählen heisse Christoph Blocher stärken. Am Schluss glaubten das alle – fälschlicherweise. Hätte es ein weiteres Beispiel gebraucht, für eine fiktionales Element im Wahlgeschehen, hätte ich an diesem Sonntag Abend mein Exempel bekommen.

Meines Wissens wurde in der Wahl für die Stadtregierung von Lugano 2013 erstmals ein Toter in eine Exekutive gewählt.

Die Reaktionen auf meinen Tweet in dieser Sache waren prominent: Norman Gobbi, der Lega-Nationalrat beschwichtigte mich umgehend mit dem Verweis, nicht der verstorbene Giulano Bignasca, sondern der populäre Ex-Regierungsrat Marco Borradori und der bisherige Lorenzo Quadri hätten für viele Stimmen gesorgt. Und der Tessiner Delegierte in Bern, Jörg de Bernardi, schob heute nach, das Proporzsystem funktioniere nach eigenen Regeln, weil man primär nich Personen, sondern Parteien (und die von ihnen vorgeschlagenen Vertretungen) wähle.

Ich kann verstehen, dass man den ausgesprochen seltenen Befund, das Tote mehr Vertrauen haben als Lebende in einer Wahl, kommentieren muss. Spezifischer Legalismus hilft hier indess nicht weiter; vielmehr ist eine Betrachtung der Zusammenhänge nötig.
Für mich ist es typisch, dass Fiktionales Wahlen in der Mediendemokratie mitbestimmen. Denn die Wahl ist nicht einfach eine Wahl von Programmen oder von KandidatInnen. Durch Propaganda und Werbung hierzu erhält sie eine Rahmung, welche Signifikanz ihr über die Wahl hinaus zukommt. Im einfacher Fall war das eine pietätsvolle Erinnerung an den Tessinere Politiker, der die Lega aufgebaut und ihre Geschicke während Jahren gelenkt hatte. Im mittleren Fall ist es das Interesse der Medien an Figuren wie den unkonventionellen Bignasca, für den man sich, unabhängig von Leistungen und Inhalte, medial interessiert, weil er so klar von der Norm abweicht. Höchstwahrscheinlich trägt seine posthume Wahl in die Regierung der Stadt Lugano aber auch Züge der Identifikation mit Vaterfiguren, wie man sie aus Nordkorea oder Venezuela kennt, die typisch sind für den grassierenden Populismus.

Erinnert sei, dass Jörg Haider nach seinem Ableben als Landeshauptmann in Kärnten von seiner Partei erfolgreich als Symbol eingesetzt wurde, um die Mobilisierung bei den ersten Wahlen in der Post-Haider-Aera zu befördern. Doch niemandem wäre es in den Sinn gekommen, die Geschicke des österreichischen Bundeslandes in die Hände eines Verstorbenen zu legen.
Ich halten es für eine ernsthafte Krise der Demokratie, wenn man Leben und Tod nicht mehr unterscheiden kann. Denn, so frage ich, wie soll man heiklere Sachen wie die parteipolitische Programme zur Steuerung der Zukunft genügend auseinander halten können, wenn das Grundlegendste nicht mehr hinreichend genug differenzieren kann.

Mit den Stimmungsentscheidungen in der Mediendemokratie verbinde ich eben den schleichenden Verlust der Kriterien für Wahres und Unwahres, für Richtiges und Falsches. Bis jetzt betraf das nur Aussagen wie Expertenstandpunkte beispielsweise zu Zahlen über das Asylwesen. Dass man kaum mehr auf gesicherter Basis politische Meinungen äussert, an das hat man sich langsam gewöhnt. Dass Tote zu Exekutivmitglieder werden, ist, jedenfalls für mich, nicht nur ungewohnt, es sollte auch nie mehr vorkommen (dürfen)!

Claude Longchamp

PS:
Auch in Neuenburg verstarb ein Kandidat kurz vor der jüngsten Wahl in den Regierungsrat. Um Klarheit zu schaffen, wer dabei und wer nicht dabei ist, wurde die Wahl um 14 Tage verschoben.