Von den Mutbürgerschaft

Ich sag’s gleich vorneweg: Der Begriff „MutbürgerInnen“ stammt nicht von mir. Erfunden hat ihn Barbara Supp 2010 in der 42. Ausgabe des deutschen Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“. Reagiert hat sie damit auf Dirk Kurbjuweit, der eine Woche zuvor, an gleichen den Wutbürger aus der Taufe gehoben hatte. Beide Wortschöpfungen entstanden aus journalistischen Analyse der Demonstrationen gegen “Stuttgart21”; der Wutbürger aus Antipathie, die Mutbürger aus Sympathie.

Mich hat seit längerem beschäftigt, weshalb der eine Begriff in Deutschland und darüber hinaus Karriere machte, ja, selbst zum Wort des Jahres gekürt wurde, derweil der andere gerade in Deutschland, aber auch hier ausserhalb, in weitgehende Vergessenheit geriet.

Max Kaase, ein führender deutscher Politikwissenschafter, definierte politische Kultur als ein schwer fassbares Gemisch aus Einstellungen der BürgerInnen zum politischen System, seinen Leistungen, den Partizipationsangeboten und den Bildern, die man von sich von sich selber als BürgerIn macht. Genau um Letzteres geht es mir, denn ich vermute, dass aktive BürgerInnen in der obrigkeitsstaatlichen Politkultur Deutschlands negativ konnotiert sind, derweil die Schweiz mit ihrer direktdemokratischen Kultur des Politisierens geradezu von Aktiven ihre Legitimation bezieht und deshalb eher auf der Seite der MutbürgerInnen steht.

Zu ihnen soll man über eine Sachentscheidung hinaus Sorgen haben, und sie nicht leichtfertig verunglimpfen.

Natürlich kann kritisieren, dass die ausgebauten Beteiligungsmöglichkeiten in der Schweiz Rechte sind, deren simple Nutzung sprachlich nicht überhöht werden sollte. Realistisch betrachtet braucht es aber für den Widerspruch bei Abstimmungen eindeutig mehr Mut als für die Zustimmung zu vorherrschenden Meinungen. Genau das hat sich noch verschärft, seit das Schüren von Emotionen, insbesondere von Aengsten, zum gängigen Bestandteil von Wahl- und Abstimmungskampagnen geworden ist. Denn Furcht ist eine natürliche Reaktion auf Gefahr, die einem das richtige Handeln anzeigt, ohne dass man lange nachdenken muss.

Genau diese angeborene Logik des Alltagsverhaltens bei politischen Entscheidungen zu durchbrechen, brauch Mut. Es braucht ihn, um seine Meinung eigenständig zu entwickeln, zu behaupten und danach zu stimmen, wenn die Tenöre der Oeffentlichkeit rundherum das Gegenteil erzählen und mit negativen Konsequenzen drohen, sollte man bei der Stimmabgabe von ihnen abweichen. Denn das engt die Entscheidungsfreiheit ein. Diese ist nicht nur eine simple Forderung an die Demokratie, es ist auch der Ausdruck der gewünschten Orientierung der Politik, wenn die Institutionen dazu nicht mehr in der Lage sind.

Nun ist mir in vielen Analysen, die ich zu Volksabstimmungen gemacht habe, mit schöner Regelmässigkeit aufgefallen, dass es im Normalfall einfacher ist, gegen ein Volksbegehren Kampagne zu führen als dafür. Es ist einfacher, mit Abstimmungskämpfen gegen Volksinitiativen die Gegnerschaft zu verstärken als die Befürwortung aufzubauen. Und es ist einfacher, Unschlüssige von einem Nein als von einem Ja zu überzeugen.

Soziologisch gesprochen wirken entsprechende Kampagnen vor allem in unteren Bildungsschichten, die es meist mit der Angst zu tun bekommen, wenn sich die öffentliche Meinung entsprechend entwickelt, und bei RentnerInnen, die keine Experimente wollen und deshalb eine unsichere Zukunft ablehnen. Das Spannende an der Entscheidung zur Abzocker-Initiative ist, dass genau diese Phänomene nicht auftraten. Untere Bildungsschichten bewegten sich, je länger es ging, desto eher Richtung Zustimmung, derweil in den oberen genau das Gegenteil geschah. Und auch pensionierte BürgerInnen verschrieben sich mit dem Andauern der Kampagnen der Ja-Seite, während jüngere vermehrt ins Nein wechselten. Das Konträre zum Ueblichen ist denn auch das Kennzeichen der Entscheidung ausmacht, welche die Schweiz am Sonntag gefällt hat. Das war nicht einfach Routine, sondern bewusste Abweichung davon: bei Linken nicht überraschend, denn man kennt das bei fast allen sozialen und ökologischen Anliegen; bei Rechten schon, denn es gint nicht um Migrationsfragen, sondern um eine Angelegenheit der Schweizer Wirtschaft.

Nun habe ich mich an diesem Sonntag spontan an den Mutbürger, die Mutbürgerin aus dem „Spiegel“ erinnert, um mit einem Wortspiel auf eine Journalistenfrage zu antworten, denn die zitierte den zwischenzeitlich weit gereisten Wutbürger, während sich der Mutbürger verkümmert in einer Ecke verzogen hatte.

Meines Erachtens verkennt man über die Entscheidung zur Abzocker-Initiative hinaus die aktuelle Situation, wenn man die Pöbelherrschaft, gemeinhin die schreckliche Form der Herrschaft der Vielen heraufbeschwört, um die unliebsame Volksentscheidung zu diskreditieren. Das Spezielle an der jüngsten Volksabstimmung ist – ähnlich wie bei der Verwahrung von Sexual- und Gewaltstraftätern, der Unverjährbarkeit pornografischer Straftaten an Kindern, dem Bauverbot für Minarette und der Ausschaffung krimineller AusländerInnen, aber auch der Forderung nach Lebensmittel aus gentechfreier Landwirtschaft resp. dem Stopp des Zweitwohnungsbaus –, dass eine Mehrheit der Aktiven so gestimmt hat, wie sie es für sich selber für richtig hält, und nicht wie die Behörden an ihrer Stelle entschieden hätten. Hauptgrund in meiner Analyse ist die erhebliche Diskrepanz zwischen erlebtem Alltag einerseits, politischen Vorentscheidungen in Regierung und Parlament anderseits. Als Folge davon kann man schweigen und der Abstimmung fern bleiben, was letztlich mutlos ist. Man kann sich anpassen und hoffen, alles werde irgendwann wieder besser, was auch nicht viel Mut braucht – oder man kann sein Mut sammeln und Behörden, wichtigen Verbänden und der Mehrheit der Parteien widersprechen.

Das alleine ist kein Garant für gute Entscheidungen in der direkten Demokratie – das will ich hier ausdrücklich sagen. Die Demokratie lebt davon, das BürgerInnen ihre Stimme abgeben, um das System mit Leben zu erfüllen. Das ist der Fall, wenn sie bewusst zustimmen, aber auch, wenn sie bewusst ablehnen. Das gehäufte Auftreten solch negativer Volksentscheidungen wie in den letzten 10 Jahren via 9 Volksinitiativen, verbunden mit der massiven Ausprägung der Zustimmung am letzten Sonntag, sollte aber Anlass sein, über das Wiedererwachen der Bürgergesellschaft ausserhalb von Institutionen, behördlicher Willensbildung, interessenbezogenen Stellungnahmen und parteiischen Urteilen vertieft nachzudenken, und mit ersten Schritten aufeinander zuzugehen.

Denn vielleicht ist genau das der tiefere Grund, der zu unangenehmen BürgerInnen-Entscheidung führt: dass man hie und da Probleme zu lange negiert; dass man, wenn das nicht mehr funktioniert, nur sehr zögerlich und harzig Lösungen entwickelt, und dass man BürgerInnen, die sich getrauen, einen anderen Standpunkt zu haben, schnell mal diskreditiert. Zur Mutbürgerschaft aller DemorkatInnen gehört, nach einer Entscheidung zu sagen, ich habe mich getäuscht, und ich bemühe mich mitzuhelfen, das Problem zu beseitigen resp. ich hatte Recht, brauche aber euren Widerspruch, um klar zu sehen.

Claude Longchamp