Hochrechnungen zu den eidgenössischen Volksabstimmungen

Am Sonntag ist es wieder soweit: Es sind eidgenössische Volksabstimmungen mit den Hochrechnungen von gfs.bern. Das ist die beste Zeit, sie vertieft vorzustellen.

Meine erste Hochrechnung machte ich zu den Berner Regierungsratswahlen 1986. Es war gleich ein Knaller: Die mehrheitlich bürgerliche Regierungsmannschaft wurde nicht bestätigt; Rotgrün eroberte die erstmals Mehrheit und zog eine Frau in den Berner Kantonsregierung ein. Bei Abstimmungen bin ich, auf eidgenössischer Ebene, seit 1992 im Dauereinsatz. Keinen Sonntag mit gesamtschweizerischen Volksentscheidungen habe ich seither ausgelassen.
Unser Kunde war stets die SRG, zuerst das radiophone Regionaljournal mit Schwerpunkt in Bern, dann Radio und Fernsehen der deutsch- und rätoromanischen Schweiz, schliesslich die gesamte SRG, mit vier Sprachen und drei Medienarten.

Warum wir das machen würden, werde ich regelmässig gefragt. Erklären kann man das wohl am besten aus einem Mix, bestehend aus Medien- und Forschungsinteressen.
Die Massenmedien buhlen an einem ereignisreichen Tag wie einer gesamtschweizerischen Volksabstimmung um Aufmerksamkeit. Vor allem dann, wenn diese erwartungsgemäss hoch ist, ergeben sich Profilierungsmöglichkeiten in die Breite. Das war beispielsweise bei der EWR-Entscheidung der Fall. 78 Prozent der Stimmberechtigten beteiligten sich am 6. Dezember 1992. Massenmedien können die Erwartungen in solchen Momenten auf verschiedene Arten nutzen; zu den verbreiteten gehört es, einen Informationsservice zu liefern, den man ohne spezielle Anstrengungen nicht hat. Hier entsteht die Verbindung zur Forschung. In einfachen Fällen kann sich fast jeder Laie seine Extrapolation aus ersten Kantonsergebnissen basteln; in den komplexeren scheitert man ohne Expertenwissen jedoch. Und sind professionelle Wahl- und Abstimmungsanalytiker gefragt.

Höchstwahrscheinlich wirkten ausländische TV-Stationen wie PatInnen. Sie hatten gezeigt, was man kann, und sie weckten Erwartungen. Meist basieren sie aber auf Befragungen am Ausgang der Wahllokale. Das macht in der Schweiz keinen Sinn, den rund 85 Prozent stimmen (etwas) vorzeitig brieflich ab.
Indes, in der Schweiz begegnet man einem zweiten Problem. Hochrechnung von Gemeindeergebnissen, wie es sie auch im Ausland gibt, basieren im Wesentlichen darauf, dass man ein Muster der Verteilungen definiert, über das man von Teilresultate auf Gesamtergebnisse schliesst. Bei Wahlen funktioniert das so: Gemeinde X hatte bei der letzten Wahl eine Verteilung zwischen den beiden grossen Parteien von X zu Z. Damit war sie genau im Schnitt aller Gemeinden. Wenn die gleiche Gemeinde X bei der neuen Wahl ein Ergebnis von Y+2 zu Z-2 liefert, schliesst man daraus auf ein gesamtschweizerisches Resultat von 2 Prozent Verschiebung zugunsten der Partei Y.
Was bei Wahl so einfach tönt, ist bei Abstimmungen tricky. Denn bei Wahlen bestimmt man das Muster anhand der letzten Wahl – und unterstellt, dass sich das Muster gleich bleibt. Das kann man mit rund 90prozentiger Sicherheit tun. Und bei Volksabstimmungen mit ihren welchselnden Themen? Was ist die Referenz zur Gesundheitsreform Managed-Care? Man merkt es sofort: Da gerät man schnell ins Stocken.

Vereinfacht ausgedrückt braucht man einen Typologie, in der alle bisherigen Entscheidungen und Konfliktmuster enthalten sind. Das zu entwickeln, ist die eigentliche wissenschaftliche Herausforderung an die Forschung. Wenn man das hat, fragt man sich, was im aktuellen Fall sinnvollerweise erwartet werden kann, und hält in der Typologie Ausschau nach der Entscheidung, die mit der höchsten Wahrscheinlichkeit analog war.
Es ist ein Glück, dass man nicht alle denkbaren Konfliktmuster typisieren muss; es reicht, wenn man die räumlichen kennt: Also geht es um Sprachräume, und um den Einfluss der Siedlungsart auf das Abstimmungsergebnis.
Ein verwandtes Thema ist dabei nur bedingt hilfreich. Denn bei weitem nicht alle Gesundheitsabstimmungen zeigen, um beim Beispiel zu bleiben. das gleiche Konfliktmuster. Vielmehr braucht es einmal eine grundlegende Unterscheidung zwischen der Initiativ-Logik und der bei Behördenvorlagen. Am schwierigsten sind übrigens Entscheidungen zu Volksinitiativen mit Gegenvorschlägen. Sodann ist eine politische Analyse nötig: Wer trägt ein Vorlage? Von wo kommt die Opposition? Schliesslich kommt der hürdenreichste Tei: In welcher Grössenordnung wird die Vorlagen voraussichtlich angenommen oder ablehnt.

Ursprünglich mussten wir die Hochrechnung zu Volksabstimmungen ohne Vorumfragen machen. Das täuschte man sich gelegentlich. Mit diesen ist einiges einfacher geworden. Deshalb gehört beides auch zusammen. Denn die Vorumfragen helfen einem, Raumverteilung, Oppositionsmuster und Zustimmungshöhe hinreichend genau abzuschätzen.

Von hier weg sind Hochrechnungen vor allem logistische Uebungen. Hat man die idealen Referenzgemeinden bestimmt, geht es darum, mit ihnen eine Kooperation für den Abstimmungstag aufzubauen. Aktuell setzen wir auf rund 100 Gemeinden pro Vorlage. Am 17. Juni 2012 ergibt das bei drei Abstimmung rund 300 Gemeinden – oder rund einen Zehntel der Gemeinden.

Die Kommunikation zwischen dem Rechencenter und Gemeinden muss so schnell wie möglich erfolgen. Zu warten, bis das letzte Resultat vorliegt, ergibt keine sinnvolle Hochrechnung. Also scheiden Gemeinden, die sehr gross und/oder sehr langsam zählen aus. Wir verzichten übrigens auch auf ganz kleine Gemeinden, denn die Zufälle in der Meinungsbildung beispielsweise in einer Sippe, an der Basis einer Partei oder via lokale Wahlen können zu unerwünschten und nicht verallgemeinerbaren Ausschläge führen.
Verarbeitet werden die Gemeindeergebnisse von einem Team von TelefonistInnen, die ihrerseits versierte Abstimmungsanalytiker alimentieren. Diese machen die von langer Hand vorbereitete Extrapolation. Das alles will minutiös vorbereitet sein, denn die Ewartungen an eine schnelle und präzise Hochrechnung lassen keinen Verzögerungen und Fehler zu!

Das Bild zum erwartbaren Abstimmungsergebnis gleicht dem Werden einer Foto im vordigitalen Zeitalter. Zuerst ist es nur schemenhaft erkennbar, dann immer deutlicher, und schliesslich ist es mit dem effektiven Resultat identisch. Wie gesagt, letzteres interessiert nicht wirklich. Das Schema ist das erste, was man haben will: Daraus entsteht die Trendrechnung; sie besagt im wesentlichen, ob einen Vorlage angenommen oder abgelehnt wird. Daraus formiert sich das gesuchte Bild mit Konturen, aus dem die Hochrechnung entsteht. Mit Angaben zu Prozentpunkten für das Ja oder Nein.
Die Methode wird nach jedem Abstimmungssonntag evaluiert und, wenn nötig, verbessert. Im Jahr 2000 haben wir die letzte gründliche Revision vornehmen müssen. Denn der Stadt/Land-Konflikt hat sich akzentuiert; aus den Referenzen geht er zu wenig klar hervor. Hinzu kommen gewisse Probleme mit Gemeindefusionen. Dennoch: Im Schnitt liegen wir bei der 14 Uhr-Hochrechmung im Mittel auf 0.8 Prozentpunkt genau. Mit anderen Worten: Ausser die Hochrechnung ergibt einen Wert für das Ja oder Nein von nahe 50 Prozent, weiss man zuverlässig, was angenommen resp. abgelehnt wurde.

Ohne ein gut eingespieltes Team ginge das alles nicht – auch nicht ohne Gemeinden, die willig sind, den kleinen Mehraufwand bei der Resultatekommunikation auf sich zu nehmen. Schliesslich braucht es ein Medium, dass aus dem Projekt seinen Mehrheit beziehen kann. In unserem Fall die SRG. All ihnen gebührt ein herzliches Dankeschön.

Claude Longchamp