Lernprozesse in der (angewandten) Wahlforschung der Schweiz

Vor einem Jahr hielt ich an den Aarauer Demokratie-Tagen ein Referat zum Stand der Wahlforschung, mit Blick auf die anstehenden Parlamentswahlen. Letzte Woche nun verfasste ich den Rückblick auf eben dieses Ereignis, verbunden mit einer (weiteren) Zwischenbilanz zum Stand der angewandten Wahlforschung. Ein kurzer Vergleich der Einschätzungen, um etwas über Lernprozesse zu erfahren.

Mindestens drei Forschungs- und Umfrageinstitute haben sich daran beteiligt – unseres für die SRG, Isopublic für die Sonntagszeitung und Demoscope für den Sonntagsblick.
Die Ergebnisse, die dabei herausgekommen sind, unterscheiden sich. Weniger hinsichtlich der „Prognosen“, die über alle einigermassen zutrafen, ohne einzelne Schwachstellen vermeiden zu können. Sie differieren vor allem hinsichtlich des Aufwands, den die Medien als Auftraggeber finanziell, zeitlich und platzmässig betrieben; das hat das SRG-Projekt zum eigentlich Marktleader avancieren lassen. Damit verbunden ist die Nachfrage nach spezialisierten Angeboten, die auf dem kleinen Umfrage-Markt zwischenzeitlich zu haben sind.

Mit dem Wahlbarometer haben wir erstmals versucht, Erklärungsansätze der Parteienwahl systematisch in die Befragungsreihe einzubauen. Es ging darum, was die Wahl einer (grösseren) Partei determiniert:

erstens, das Image der Kampagnen, die Taktik mit Blick auf die Bundesratswahlen, was kurzfristige Determinanten sind,
zweitens, die Personen an der Spitze der Parteien, die Themenkompetenz der Parteien aus der Optik der Wählenden und die Beurteilung des Bundesrates, was man als mittelfristig wirksame Faktoren ansehen kann,
und drittens, die Werthaltungen, die Parteien verkörpern, ohne Zweifel ein langfristig angelegter Bestimmungsgrund der Parteienwahl.

Der so gewählte Ansatz der SRG-Befragung (über dessen Ergebnisse exemplarisch hier berichtet wird) hat sich bewährt; er liefert eindeutig mehr als die bekannten Beschreibungen der Parteistärken nach Merkmalsgruppen; er ist auch flexibler als die Messung von Präsidentenimages, um daraus Siege und Niederlagen der Parteien abzuleiten.

Wenn es also offensichtliche Entwicklungen in der Entwicklung von Erklärungen der Parteienwahl gibt, bleiben doch beschränkte Probleme in der Beschreibung der Wahlabsichten. Deren Zuverlässigkeit konnte 2011 erstmals nicht mehr gesteigert werden. Das hängt wohl mit der grösser gewordenen Unsicherheit der Parteienwahl zusammen, ausgelöst mit der wachsenden Kritik an der SVP, welche die Mobilisierungsfähigkeit beeinträchtigte, aber auch mit dem Auftreten neuer Parteien und kurzfristiger Entscheidungen.

Da hat die Umfrageforschung vor allem via Wahlbörsen eine Konkurrenz bekommen. Wenn deren Leistungen bei der Prognose beträchtlich sind, darf jedoch eines nicht übersehen werden: Der Wahlforschung, die darauf ausgerichtet ist zu klären, warum wer wen wählt, sind sie gar nicht dienlich. Denn sie focussieren einzig die Frage, wer gewählt wird. Alles andere, das eigentlich interessiert, behandeln sie gar nicht.

Immerhin, eines zeigten die jüngsten Wahlen auch: Immer mehr zeichnet sich wie in der amerikanischen Wahlberichterstattung ab, dass die zuverlässigsten Prognosen, Diagnosen und Analysen nicht aufgrund eines einzigen datengetriebenen Instrumentes gemacht werden, sondern aus der distanzierten Bewertung der verschiedenen Instrumente durch Wahlexperten insgesamt. Das Panel der Berner Spezialisten am Institut für Politikwissenschaft verweist in diese Richtung. Leider publizierten sie ihre Einschätzungen der Parteien vor der Wahl erst nach der Wahl. Immerhin, ich hatte kurz vor der Wahl Einblick in die Ergebnisse. Wenn ich mir ansehe, was beispielsweise Markus Freitag, seit August 2011 Professor für politische Soziologie an der Berner Uni, ablieferte, kann ich nur den Hut ziehen. Denn besser als er war niemand. Das wird man 2015 zu beachten haben!

Claude Longchamp

siehe auch meinen Artikel “Prognosen, Trends und Bestandesaufnahmen vor Wahlen”, in: Ziegler, Beatrice, Wälti, Nivole (Hg.): Wahl-Probleme der Demokratie. Schriften zur Demokratieforschung 5, Zürich 2012, pp. 61-74