20 Jahre Hochrechnungen zu Volksabstimmungen

Seit 20 Jahren mache ich Hochrechnungen zu Volksabstimmungen für die SRG Medien. Ein persönlich gehaltener Rückblick.

Ganz am Anfang stand eine Entdeckung. Bei der Abstimmung über die (schon damals abgelehnte) Ferien-Initiative von 1985 bemerkte ich erstmals, dass die Reihenfolge der Kantone in der Zustimmung nicht beliebig war, sondern einem Muster folgte, das man schon im voraus hätte wissen können.

Das liess in mir die Idee aufkommen, darauf aufbauend Hochrechnungen zu Volksabstimmungen zu machen. Denn die funktionieren nach dem Grundsatz: Wenn Du einen Kanton hast, der früh bekannt ist und Du weisst, dass der in systematischer Art und Weise von gesamtschweizerischen Ergebnis abweicht, dann kannst Du bei Vorliegen des Kantonsergebnisses auf das nationale Endresultat schliessen, bevor jemand dieses kennt.

Die Hoffnung, es würden nur ein solches Muster geben, erwies sich als trügerisch. Auch zerschlug sich die Erwartung, dass es einen schnell ausgezählten Kanton geben würde, der sich für die Extrapolation bei allen Abstimmungsthemen eigne. Das machte den ersten Anlauf zunichte, kontinuierliche Hochrechnungen zu eidgenössischen Abstimmungen leisten zu können.

Der zweite Anlauf war erfolgreicher. Abstimmungsergebnisse wurden in der zweiten Hälfe der 80er Jahre immer häufiger elektronisch zugänglich gemacht. Zudem kamen erste Programme zu deren effizienten statistischen Analyse auf den Markt. Seit 1988 arbeitete ich deshalb im Geheimen während meiner Anstellung als Uniassistent am Projekt „Hochrechnungen“.

Den Durchbruch brachten die Wahlen 1991. Das Schweizer Fernsehen wurde auf meine Analyse zu Parteien, Wahlen und Abstimmungen aufmerksam. Die Idee, das in geeigneter Form medial umzusetzen, wurde gemeinsam geboren. Anlass bot die sich immer deutlicher abzeichnende Abstimmung über einen EWR-Beitritt der Schweiz. Bis dann sollte das Projekt „Hochrechnungen“ gereift sein, meinten Werner Vetterli, Toni Schaller und Balz Hosang von der Chefredaktion.

Anschauungsmaterial boten die IWF-Entscheidung im Mai 1992, gefolgt von der Neat-Abstimmung im September des gleichen Jahres. Am 6. Dezember 1992 war es soweit: Der historische Moment in der Schweizer Gegenwartsgeschichte war auch der eigentliche Startschuss für TV- und Radio-Hochrechnungen, die es seither live gibt und die ich lückenlos kommentiert habe.

In den 20 Jahren, in denen ich dieses Geschäft nun betreibe, sind die verwendeten Methoden weiter entwickelt worden. Durchbrüche waren zuerst logistischer Natur, denn heute verfügen wir über eine umfassende Datenbank mit allen Abstimmungsresultaten der Gemeinden, Bezirke und Kantone. Es kamen mapping-Verfahren hinzu, die uns Uebersichten liefern über vergleichbare Abstimmungen liefern. Schliesslich gelang es uns auch, Ergebnisse aus den Vorbefragungen in diese Systematik einzubauen. Das alles macht es uns möglich, routinemässig Referenzabstimmungen für kommende Entscheidungen zu ermitteln, aufgrund derer wir im Vorfeld eines Abstimmungssonntages die Gemeinden auswählen, denen Ergebnisse wir brauchen, kantonale und nationale Extrapolationen machen, die uns Volks- und Ständemehr anzeigen.

Nötig war es auch, ein eigentliches Team aufzubauen, das im entscheidenden Moment extrem leistungsfähig ist. Denn faktisch verfügen wird ab 12 Uhr und einige Minuten über geeignete Resultate, die uns zwischen 13 und 14 Uhr die gewünschten Hochrechnungen erstellen lassen. Dazu sind erfahrene MathematikerInnen nötig, PolitikwissenschafterInnen, die abstrakte Modelle in konkrete Abstimmungsergebnisse übersetzen und Kommunikatoren, die das Ganze beispielsweise auf im Minutentakt Internet verbreiten können.

Am meisten Freude macht mir, dass es uns gelungen ist, aus Prognose auch Erklärungen zu machen. So sind wir heute in der Lage, schon hochgerechnete Kantonsmuster eine Vorlage, deren Ergebnis offiziell noch gar nicht feststeht, hinsichtlich typischer Konfliktlinien wie Sprachräume und Siedlungsart zu analysieren. Und wir können ein erstes Mal abschätzen, welche Parteien geschlossen oder gespalten gestimmt haben. Schliesslich sind wir in der Lage, Einflüsse aus den wirtschaftlichen Verhältnissen, kulturellen Eigenheiten und politischen Präferenzen in den Regionen auf die Stimmentscheidungen zu berechnen. Dies hilft uns seit Jahren, schon am Sonntag Nachmittag, spätestens aber im Verlaufe des Montag, eigentliche Erstanalysen vorzulegen, die einen Einblick geben, welche räumlichen Einheiten wie gestimmt haben, und vor allem was die Gründe dafür sein können.

In den Jahren, in denen ich dazu den Abstimmungssonntag im Fernsehstudio verbringe, habe ich allerlei gesehen: Unvergessen in mein Gedächtnis eingebrannt hat sich Christoph Blochers Einzug beim EWR-Nein. Oder Peter Bodenmanns Nachfrage, ob er sich, ausgerechnet bei mir, dem Fliegenträger, eine Krawatte ausleihen könne, um gesittet vor die Kamera stehen zu können. In guter Erinnerung habe ich auch, wie knapp die Entscheidungen bei der KVG-Revision, der Asylinitiative und dem Uno-Beitritt waren, die wir alle richtig vorausgesagt haben. Beim letzten Thema kam „erschwerend“ hinzu, dass sich ein zentraler Mitarbeiter in unserem Team mitten in den Arbeiten in einen TV-Gast verliebte!

Claude Longchamp