Bilanz zum neuen Parteiensystem aus der Wahltagsbefragung

Die neue Mitte ist das Hauptphänomen der Nationalratswahlen 2011. Gebildet wird sie aktuell durch CVP, GLP und BDP. Zusammen sind die drei Parteien von 16 auf 23 Prozent Wähleranteil angestiegen. Verringert hat sich das Gewicht links von ihr um rund 2 Prozentpunkte, rechts von ihr um rund 5 Prozentpunkte.

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Vor allem im Langfristvergleich fällt die Neuerung auf. Waren alle nationalen Wahlen seit der “historischen” EWR-Entscheidung vom 6.12.1992 durch die Polarisierung, seit 2003 auch durch eine Rechtsentwicklung gekennzeichnet, hat das Pendel diesmal umgeschlagen: Die Rezentrierung ist das aktuelle
Kennzeichen.

Dafür spricht nicht nur das Wahlergebnis. Auch die Wahltagsbefragung charakterisiert die meisten Wählerströme durch die neue Tendenz. BDP und GLP sind Magnete für WechselwählerInnen geworden. Je unvoreingenommener der Parteientscheid 2011 gefällt wurde, desto grösser ist die Chance, dass man sich für eine der beiden Parteien entschied. Beide Parteien waren auch für Wechselwählende attraktiv. Das alleine erklärt die Veränderungen der Parteistärken noch nicht. Hinzugerechnet werden müssen auch die Mobilisierungseffekte. Diese zeigen, dass vor allem die GLP für die Neumobilisierten attraktiv war.

Der Wandel der Grosswetterlage von der Polarisierung zur Harmonisierung lässt sich auch anhand der Position der Parteien auf der Links/Rechts-Achse ablesen. Erstmals ist die Distanz zwischen SVP einerseits, SP und GPS anderseits nicht mehr gewachsen; sie hat aber auch nicht abgenommen. Die neuen Parteien entstanden nicht durch die Wählenden der klaren Pole, eher durch jene mit gemässigten Positionen leicht links oder rechts der Mitte, die sich von diesen Polen abwandten.

Die Themen- und Werteausrichtung der GLP überzeugt die neue Wählerschaft der Partei am meisten: Mit der Kernenergiedebatte nach dem Unfall in Fukushima hat die Partei nicht nur ihr Thema gefunden, sondern auch ihre Rolle als Vermittlerin im Parteiensystem. Das wirkte namentlich auf bisherige WählerInnen von FDP und SP anziehend aus. Besonders attraktiv ist dies für Wählende aus dem urbanen Gebiet, für Angehörige der oberen Mittelschichten und für jüngere Wählende.

Bei der BDP sind die Personenausrichtung und die Grundhaltung der Partei wichtig. Thematisch ist die zweite neue Partei noch weniger profiliert. Gewählt wurde sie wegen den KandidatInnen, die für die „Neue Kraft“ stehen, und selbstredend wegen der Bundesratsfrage. In der Grundhaltung ist man für eine vermittelnde, staatstragende Sicht auf die Dinge aus. Das hat sich auf frühere Wählende von FDP, SVP und SP positiv ausgewirkt. Es hat der Partei vor allem im Segment der RentnerInnen stimmen gebracht, aber auch bei jungen Wählenden ohne bisherige Parteipräferenz. Sie tendiert dazu, in verschiedenen Städten zur Alternative zur FDP zu werden, während sie auf dem Land teilweise die SVP herausfordert.

Die SVP verlor bei dieser Wahl, weil sie den gewohnten Spannungsbogen, den sie in die Politik und die Wahlkämpfe brachte, nicht mehr im gleichen Masse entwickeln konnte. Das zeichnete sich mit der Kontroverse um den Kampf gegen Personenfreizügigkeit ab, die bis in die Partei hinein wirkte. Vernachlässigt hat die SVP auch die Themenarbeit in Wirtschaftsfragen, die gerade mit dem starken Franken von Belang wurden. Entscheidend blieb, dass trotz des Versuchs, den eingespielten Dreh in der Kampagne zu imitieren, die gewohnte Schlussmobilisierung ausblieb. Massgeblich war, dass die Polarisierung von rechts nicht mehr verstärkt werden konnte. Stark zurück entwickelt hat sich auch die Attraktivität der SVP für Wechselwählende, Gegenüber keiner anderen Partei hat die SVP heute eine positive Wanderunsbilanz. Gegenüber der BDP ist diese sogar negativ.

Die FDP hat ein Positionierungsproblem. Die hat die Abwanderung von Wählenden nach rechts zwar stoppen können. Sie konnte indessen nicht verhindern, dass die Front zur Mitte bröckelt. BDP und GLP sind zur Konkurrenz geworden. Der Fukushima-Effekt ist hier von Belang. Vermuten kann man auch, dass die verschiedenen Positionswechsel zur inneren Demobilisierung beigetragen haben.

Dies ist auch bei der CVP das entscheidend. Dank der Mitte-Position konnte die CVP Abwanderungen zu anderen Parteien gering halten, nicht aber die bisherige Wählerschaft mobilisieren. Ihr Problem besteht darin, dass das weltanschauliche Fundament im Christentum kaum mehr trägt, die Stil- und Personenorientierung überhand nehmen, und die Wählenden ohne Probleme auch Kandidaturen anderer Parteien berücksichtigt, selbst wenn das der Partei an Stimmkraft kostet.

Die GPS kann das grüne Potenzial nicht mehr für sich allein beanspruchen, denn die GLP ist zur Konkurrentin geworden. Elektoral ist das nicht einmal das Entscheidende, denn die GPS verlor in erster Linie wegen der inneren Demobilisierung. Unter den Verbliebenen macht der Anteil weltanschaulich gebundener WählerInnen eine Proportion wie in keiner Partei aus, was dafür spricht, die konkrete Themenarbeit künftig wieder mehr zu pflegen, und die Offenheit der Partei zu erhöhen.

Die SP hat ihre Position neu bestimmt, klar auf den linken Pol gezielt, um verbessert mobilisieren zu können. Das scheint ihr auch einigermassen geglückt zu sein, allerdings mit dem Preis verbunden, dass es Abwanderungen zu anderen Parteien gegeben hat, die entweder klar ökologischer oder deutlich moderater positioniert sind. In der Romandie ging das Rezept auf, in der deutschsprachigen Schweiz kaum.

Auch wenn die Polarisierung mit ihrer positiven Wirkung auf die Wahlbeteiligung an ihre Grenzen gestossen ist, die Wahlbeteiligung ist 2011 erneut gestiegen. Man kann davon ausgehen, dass heute ein Sockel von 42 bis 43 Prozent besteht, der sich mehr oder weniger fest ins Wahlgeschehen eingebunden fühlt. Gegenüber den letzten Wahlen hat er zugenommen. Darüber hinaus kommt es darauf an, wer neu mobilisiert wird und wohin diese Wählenden gehen. In dieser Hinsicht besteht eine Änderung gegenüber 2007. Die Neuwählenden ziehen heute die Mitte vor, während die gewohnte Supermobilisierung der SVP weitgehend ausgeblieben ist.

Claude Longchamp