Ein 8 Milliarden Dollar Geschäft war wichtiger als der Tod bin Ladens

22 Jahre arbeitete Michael Scheuer für die CIA. 2004 verliess er seinen Posten bei der Einheit, die Osama bin Laden jagte, um anonym kritische Bücher zur Anti-Terror-Politik der USA zu schreiben. Heute ist er Professor an der Gerogetown-Universität in Washington, bloggt und publiziert er unter seinem Namen Bücher in renommierten Verlagen – zuletzt: “Osama bin Laden. Oxford University Press, 2011”.

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“Bin Laden ist ein grosser Mann”, erzählt Scheuer dem heutigen Tages-Anzeiger. “Time Magazin” habe Hitler 1938 zum Mann des Jahres gewählt. Bin Laden hätte die Bezeichnung auch verdient, denn keiner habe den Alltag der AmerikanerInnen in den letzten 50 Jahren so verändert wie er.
Scheuer hat die meiste Zeit seines Lebens damit verbracht, bin Laden zu töten, zollt ihm aber Respekt. Er sei ein bescheidener Mensch, ein gescheiter Stratege – und eine ernsthaft religiöse Persönlichkeit, die dadurch Fehler begangen habe.
Sein Kampf galt den Ungläubigen, was für bin Laden ein Synonym für die amerikanischen Streitkräfte war. Insbesondere ihre Präsenz im Nahen Osten, die pro-israelische Politik und die Unterstützung für arabische Polizeiregimes durch die USA habe er aus der Welt schaffen wollen. Die USA wiederum negierten diese Dimensionen der Auseinandersetzung.

Die Aktion der Amerikaner in Pakistan umschreibt Scheuer so: “Wir haben den CEO eines Multis getötet. Er legte die Ziele fest, aber er war gescheit und modern genug, die Arbeit an die lokalen Manager zu delegieren.”
Scheuer ist überzeugt, bin Laden habe in seinem Sinne vernünftig gehandelt. Er geht davon aus, man werde ihn bald vermissen. Denn seine Nachfolger seinen blutdrünstiger. Er rechnet nun mit mehr Kleinanschlägen, insgesamt auch mit mehr Blutvergiessen.
Bin Laden habe seinerseits damit gerechnet, nicht zu überleben, analyisert der ehemalige Geheimdienstler. Deshalb habe er eine generationenübergreifende Organisation geschaffen. Bis 9/11 sei al-Qaida zu Operationen in Afghanistan fähig gewesen. Heute kämen mindestens Pakistan, Jemen, Irak, Somalia, Gaza hinzu.

Den Angriff auf bin Laden verteidigt Scheuer ausdrücklich. Ein Bombenangriff hätte viel mehr Schaden angerichtet, und bei einem Drohnenangriff wäre man der Leiche nicht Herr geworden. Die Kommandoaktion der Navy Seals sei deshalb richtig gewesen. Versagt hätten aber die Verantwortlichen bei der Präsentation von Beweisen. Die Unterhaltungsindustrie produziere täglich schlimmere Bilder als das Foto eine Kopfschusses.

Einen grössere Zusammenhang mit den Ereignissen in Nordafrika sieht Scheuer bei der Tötung bin Ladens nicht. Den entscheidenden Hinweis habe man erst kürzlich aus Befragungen Verdächtiger erhalten. Das sei eine übliche Quelle, die nicht mit bestimmten Methoder des Verhörs, aber mit der Zahl der Untersuchungen sprudle. Der Rest sei ein Puzzlespiel.

Es sei jedoch nicht die erste Möglichkeit gewesen, bin Laden auszuschalten. Zwischen Mai 1998 und Mai 1999 habe man mehrere Möglichkeiten gehabt, ihn gefangen zu nehmen oder ihn zu töten. Den Feuerbefehl dazu habe Präsident Clinton jedoch verweigert. Unter anderem seien ökonomische Gründe massgeblich gewesen, habe man doch Gesprächspartner bin Ladens Kriegsmaterial verkauft. Ein 8-Milliarden-US-Dollar-Geschäft sei der amerikanischen Regierung damals wichtiger gewesen.

Wenn man das so liesst, staunt man nur. Zuerst über den Kontrast zwischen dem emotionsgeladenen Jubel auf den Strassen und der kühlen Analyse des Professors. Dann auch über die Konzentration auf Machtfragen, fernab vom viel beschworenen Kulturkonflikt. Schliesslich über die Metaphern aus der Wirtschaftssprache, in der es nur um den Tausch selbst zwischen dem Guten und Bösen zu gehen scheint. Das alles macht Scheuer zum Machiavelli unserer Zeit.

Claude Longchamp