Weshalb man immer weniger aus kantonalen Wahlresultaten herauslesen sollte.

Die Zeitungen sind voll von Uebersichten zu den kantonalen Wahlen, um etwas über den Ausgang der nationalen Parlamentsneubestellung zu erfahren. Doch kann man aus diesem Vergleich immer weniger Zuverlässiges erfahren – wenn man beispielsweise von den Trends bei der Wahlbeteiligung abstrahiert.

Nehmen wir die SVP: Bis 1991 war sie national und kantonal etwa gleich stark. Die Differenz lag bei maximal 2 Prozentpunkten. Da machten Vergleiche Sinn. Seither öffnet sich eine Schere. Zwischen 1995 und 1999 legte die Partei national massiv zu, ohne dass es kantonal ein Pendant dazu gab. Seither beträgt der Unterschied in der Parteistärke rund 8 Prozentpunkt und ist das Verhältnis zwischen Kantons- und Bundesergebnissen instabil geworden. Da ist grösste Vorsicht angesagt.

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Vergleichbares findet sich bei der Grünen Partei. Bis 1999 war man national und kantonal ähnlich stark. 1 Prozent betrug der Unterschied damals. Dann beschleunigte sich der nationale Aufstieg. Zwischenzeitlich ist man gesamtschweizerisch rund 3 Prozent stärker als in den Kantonen. Trend hier: ungebrochen auseinander laufend. Deshalb auch ein Warnruf.

Die Unterschiede an den Polen haben in erster Linie mit Unterschieden in der Beteiligung zu tun. An den meisten kantonalen Wahlen nimmt rund ein Drittel teil; Trend negativ oder stabil. Bei nationalen Wahl zeigt sich das Umgekehrte: Trend nach 1999 zunehmend, zwischenzeitliches Niveau bei rund der Hälfte. Wenn die beiden Gruppen parteipolitisch identisch sind, ist das ein Mega-Zufall!

Ausgelöst wurde die Veränderungen in nationaler Parteikampagnen. Sie sind in den letzten 12 Jahren lauter und markiger geworden. Sie haben einen Gegner, gegen den man polemisiert. Das hat die nationale Politik mächtig polarisiert. Die Gegensätze entstehen über Sachfragen. Vermittelt werden sie über medial hochpräsente Kommunikatoren, die das Agenda setting betreiben und ihre Parteien wie Marken positionieren.

Was davon zeigte sich bei den jüngsten Zürcher Wahlen? – Gab es ein überhaupt ein von Parteien lanciertes Streitthema? Hat man überragende Kommentatoren bei der SVP und den Grünen gesehen? Pflegte überhaupt jemand die Parteien als Erkennungsmarke? Ich jedenfalls habe nichts davon bemerkt, denn medial dreht sich alles um die Regierungsratswahlen, die einzig der Reaktorunfall in Japan etwas störte. Trotzdem bin ich überzeugt, dass wir das mit Blick auf die nationalen Wahlen in Kürze wieder finden werden.

Der Nationalisierung parteipolitischer Kommunikation hat die CVP am wenigstens etwas entgegen zu setzen. Unverändert ist sie in den Kantonen stärker als im Bund. Sieben Prozent Unterschied galten lange als Faustregel. Nur hilft der Verweis auf die Lage in den Kantonen nichts, um die Lage in der Nation zu verstehen. Einzig nach dem Verlust des 2. Bundesratssitzes ging, abweichend vom allgemeinen Gang der Dinge, ein Ruck durch die Partei. Doris Leuthard richtete sie wieder auf. Vom Leuthard-Effekt im Jahre 2007 ist kaum mehr etwas übrig geblieben.

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Bei der FDP gilt ähnliches. Kantonal steht man besser da als national. Doch weisen beide Trends seit den 80er Jahren nach unten. Eine Wende ist nicht in Sicht, stabilisiert hat sich die FDP im interkantonalen Vergleich über die Fusion mit den Liberalen. Das liess die FDP in der Romandie erstarken. Der Tatbeweis auf nationaler Ebene steht noch aus. Die Positionierung der Partei rechts der Mitte lässt angesichts der erwachten Oeko-Diskussion in eben dieser Mitte wenig Gutes erwarten.

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Am speziellsten sind die Verhältnisse bei der SP. Zwischen 1995 und 2003 erneuerte sie sich elektoral erheblich. Die Lokomotive sass in Brig und bewegte die nationalen Parteigremien Tag für Tag; in den vereinigten Kantonen blieben die Veränderungen stets geringer. Da kam es 2006/7 zum eigentlichen Einbruch in Bern und Zürich. Gesamtschweizerisch fand er 2007 bei den Nationalratswahlen statt. Kantonal konnte die SP den Rückgang 2010 stoppen. National schwankt sie zwischen linker Programmtik und Pragmatik in der Regierung, weshalb der Wahlausgang im Herbst offen ist.

Oder anders gesagt: Nationale Wahlergebnisse sind volatiler geworden als die kantonalen. Die Unterschiede in den Parteistärken sind in erster Linie ein Folge der Mobilisierungsfähigkeit von Wahlen und Parteien. Da haben die Polparteien Vorteile. Bei kantonalen Wahlen ist das weniger wichtig. Da entscheiden in erster Linie unzufriedene ParteiwählerInnen im Zentrum, ob ihre bisherige politische Bezugsgruppe gewinnt oder verliert.

Wer mit dem Rechenschieber Prozentzahlen extrapoliert, könnte im Wahlherbst eine Ueberraschung erleben! 1 Prozent mehr Wahlbeteiligung als bei kantonalen Wahlen öffnet den Raum für maximal 3 Prozentpunkte Veschiebungen der Ebene der Parteistärken! Und die Wahlbeteiligung wird am 23. Oktober viel höher sein als bei den kantonalen Wahlen.

Claude Longchamp