Le rideau de rösti vs. Röschtigraben

René Knüsel, Politologe an der Universität Lausanne, interpretiert im heutigen “Le Temps” den gestrigen Röschtigraben in der Volksabstimmung über die 4. AVIG-Revision. Er ortet drei themenspezifische Gründe und eine allgemeine Ursache.

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Selbst auf Gemeindeebene zeichnen sich (mit Ausnahme des Kantons Wallis) die unterschiedlichen Mehrheiten zur AVIG-Revision weitgehend entlang der Sprachgrenze ab.

René Knüsel nennt als Erstes die soziale Realität. Diese sei in den verschiedenen Sprachregionen anders, zumal bei der Arbeitslosigkeit. In zahlreichen Gegenden der französischen- wie der italienischsprachige Schweiz kenne man das Phänomen besser, habe sich mehr damit beschäfitgt und wisse um die Folgen. Entsprechend sei die Reaktion auf die Revision heftiger auf Widerstand gestossen. Sie habe auch mehr mobilisiert. Das alles sei an vielen Orten der deutschsprachigen Schweiz anders, weshalb der Einsatz für Arbeitslose weniger zum Politikum werde, das Problem gelegentlich auf tabuisiert werde.

Damit einher geht nach Knüsel ein differentes Staatsverständnis. In der deutschsprachige Schweiz reagiere man sensibel auf Staatsaktivitäten, gerade wenn sie als Eingriffe in die Privatsphäre gesehen werden können. Das gelte nicht nur bei der Arbeitslosigkeit, es findet sich auch bei der Fürsorge, Vorschriften für die Kindererziehung oder bei der Verhinderung innerehelicher Gewalt. Zementiert werde das durch andere Strukturen, denn gerade in der Romandie ist es der Kanton, der sich um soziale Fragen kümmere, während das auf der deutschsprachige Seite öfters die Gemeinden seien. Das erschwere es, politisch koordinierten Druck auszuüben.

Den dritten Grund ortet der Politologe in den Wahrnehmungen der Wirtschaftsentwicklung. Die deutschsprachige Schweiz verstehe ich trotz Finanz- und Wirtschaftskrise als ökonomische Kraft. Deshalb traue man sich die Ueberwindung der Probleme viel eher zu. Die Romandie habe zwar eine diversifizierte Wirtschaftsstruktur, doch hängt deren Entwicklungen stärker vom Ausland oder von der deutschsprachigen Schweiz ab. Das lasse weniger Zuversicht in die wirtschaftliche Zukunft aufkommen.

Schliesslich erwähnt der Lausanner auch das, was mit den Proportionen der Sprachgruppen zu tun hat. Die Romand(e)s sind eine Minderheit – und Minderheiten fühlten sich von der Mehrheit schnell mal ausgeschlossen. Das selber nähre das Gefühl, übergangen zu werden. “C’est une relation qui rest extrémement délicate.”

Deshalb füge ich bei, meinte man mit dem Röschtigraben oft nur die Minderheit, auf die man gebührend Rücksicht nehmen müsse. Demgegenüber meint der rideau de rösti meint, dass man schon gar nicht verstehe, was hinter dem Vorhang geschehe und deshalb ausgeschlossen sei.

Claude Longchamp