Analyse der weltanschlichen Oppositionspotenziale vor den Volksabstimmungen vom 18. Juni 2023

Analysen der weltanschaulichen Landschaft unterscheiden meist zwei Dimensionen: eine ökonomische und eine kulturelle. Ein Anwendung bei den eidg. Volksabstimmungen vom 18. Juni 2023.

Positionierung der Schweizer Parteien gemäss Chapel Hill Expert Survey


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Der Chapel Hill Expert Survey
Verbreitet ist es, die erste Dimension des ideologischen Feldes mit “Links/Rechts” für Staat vs Markt zu umschreiben. Bei der kulturellen Spaltung setzt man häufig auf die gal/tan-Aufteilung; dabei steht “gal” für den Pol «grün (ökologisch), alternativ, libertär» und “tan” für «traditionell, autoritär und nationalistisch».
Ein gutes Beispiel dafür ist der Chapel Hill Expert Survey (CHES). Dabei wurden alle Programme der europäischen Parteien untersucht und Stand 2019 auf beiden Dimensionen klassiert.
Eine Weiterentwicklung davon wird hier abgebildet. Sie füllt die ideologischen Quadranten mit konkreten Weltanschauungen.
Ein Beispiel: Im links-libertären Quadranten findet sich beispielsweise der Sozialliberalismus, die soziale Demokratie, die ökologische Weltanschauung und der demokratische Sozialismus. Randständig gibt es auch den links-libertären Anarchismus.
Genau solche Spezifizierungen kann man verwenden und die Parteien genauer zu umschreiben und über sie die Konfliktlinien bei Abstimmungen zu bezeichnen. Kennzeichnend für die Parteiprogramme sind demnach:

SVP: nationalkonservativ bis libertär-konservativ
FDP: konservativ-liberal
Mitte: zentristisch (bis christdemokratisch)
EVP: paternalistisch konservativ
GLP: neoliberal, wobei sich das neo auf nachhaltig bezieht
SP: sozialdemokratisch bis demokratisch-sozialistisch
Grüne: ökologisch bis demokratisch-sozialistisch

Bezogen auf die kommenden Abstimmungen heisst das nun:

Opposition zur Mindeststeuer
Bei der Mindeststeuer hat sich national nur die SP für ein Nein entschieden; die Kantonalparteien aus Baselstadt und –Landschaft haben jedoch eine Stimmfreigabe beschlossen. Das gilt auch für die Grünen, die sich national nicht festlegen konnten.
Seitens der Verbände hat sich der Schweizerische Gewerkschaftsbund angeschlossen.
Der argumentative Kern der Ablehnung kann als demokratisch-sozialistisch mit einer klar internationalistischen Ausrichtung bestimmt werden. Demgegenüber sind OekologInnen und Sozialliberale dafür, typisch Sozialdemokratinnen hin- und hergerissen.
Die klar linke Position wird argumentativ bei Aussagen deutlich, die sich der «internationalen Solidarität» verschreibt und gezielt «gegen den interkantonalen Steuerwettbewerb» richten. Hinzu kommt das Nein wegen der Umgestaltung, welche «Standortattraktivität mit Steuervergünstigungen» zu sichern suche. Gefordert wird als Alternative das über «mehr soziale Sicherheit und ausgebaute Infrastruktur» zu bewerkstelligen, wofür «mehr finanzielle Mittel an den Bund» gehen sollten.
Ohne eine klar Ausweiterung der Opposition und ihrer Argumentation bleibt die Ablehnung recht klar eingrenzbar.

Opposition zum Klima- und Innovationsgesetz
Das Klima- und Innovationsgesetz wird national nur von der SVP bekämpft. Im Parlament stimmten auch vereinzelte FDPler Nein, und wenige von ihnen sind im Nein-Komitee aktiv. Die nationale Partei hat noch keine Entscheidung getroffen. Kantonal besteht eine Tendenz zum Ja.
Seitens der Verbände haben sich national nur die Hauseigentürmer und Gastrosuisse angeschlossen.
Das spricht primär für eine traditionelle Werthaltung im national-konservativen Umfeld, sekundär für einen libertären Konservatismus in der Opposition.
Die Opposition wird demnach durch eine traditionelle Weltanschauung bestimmt, erweitert durch konservativ Libertäre. Allenfalls kommen auch liberal-konservative Positionen hinzu.
Sollte die FDP ein Nein beschliessen oder sich für Stimmfreigabe entscheiden, gäbe es eine Ausweitung in Richtung dem Konservativ- oder Rechtsliberalismus. Auch bei einem Ja der FDP stellt sich die Frage, wie stark diese Parole an der Basis greift. Genau das macht die Einschätzung der Vorlage schwierig.
Argumentative kommt die traditionelle Werthaltung vor allem beim Nein zur Energiewende «ohne Plan» zu Ausdruck. Sie führe zu einer «verschärftem Strommangel», der die «Versorgungssicherheit gefährdet» und «die Strompreise ansteigen lässt». Die libertären Strömungen werden durch die Kritik an der mit dem Gesetz verbundenen «staatlichen Umerziehung» eingebunden.

Opposition zum Covid-19-Gesetz
Auch das Covid-19-Gesetz wird national von der SVP abgelehnt. Hinzu kommen jedoch auch die Piraten- resp. die Libertäre Partei. Wenige FDPler sind im Nein-Komitee aktiv. Die nationale Partei hat sich aber dafür ausgesprochen.
Die Opposition ist auch hier weltanschaulich traditionell. Hinzu kommen Libertäre mit konservativem Weltbild, das nicht zuletzt anti-internationalistisch ist.
Verbandsseitig gibt es für die weitgehend ausserparlamentarische Opposition kaum nennenswerte Unterstützung. Allerdings sind seitens der rechtsbürgerlicher Medien Sympathien bemerkbar.
Es bleibt der Eindruck, dass die Opposition trotz dem Nein der wählerstärksten Partei isoliert ist.
In der konkreten Argumentation wird die «Freiheit des Individuums» in den Vordergrund gerückt, die «keine Einschränkung durch staatliche Vorschriften und Kontrollen toleriert». Zudem kommt ein starkes Behördenmisstrauen zum Ausdruck, wenn beispielsweise die «nutzlosen Schutzmassnahmen» beklagt werden, die «nur im Interesse der Globalisten» seien.

Kurze Bilanz
Alle drei Vorlagen haben, wenn auch unterschiedlich starke Chancen in der Volksabstimmung angenommen zu werden. Am grössten erscheinen sie beim Covid-19-Gesetz, am geringsten beim Klima- und Innovationsgesetz. Hier haben wir zu zeigen versucht, wo die weltanschaulichen Gründe dafür sind.
Die gleiche Analyse der Ja-Lager ist weniger eindeutig, da sie in allen drei Fällen überparteilich sind, stets die FDP, Mitte, GLP und EVP umfassen, die verschiedene weltanschliche Milieus vertreten. Solange die Allianz nicht auseinanderbricht, ist der ideologische Pragmatismus für den den positiven Ausgang der Abstimmungen am 18. Juni 2023 entscheidend.

Claude Longchamp

#Frischgebloggt Eidg. Volksabstimmungen vom 18. Juni 2023: Ja-naja-Ja

Heute veröffentlichte Stellus seine Prognosen zu den eidg. Abstimmungen vom 18. Juni 2023. Meine Einordnung in die anderen Vorhersage-Tools.


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Das Tool
Vorab ein Wort zum Tool und zur Person. Es handelt sich um einen Absolventen der EPFL, der heute in einem anderen Gebiet tätig ist und deshalb anonym bleiben will. Man kann sich aber online mit ihm austauschen. Gerechnet werden verschiedene Machine Learning Modelle, die alle auf der Analyse der Abstimmungsbüchlein zwischen 1979 und 2017 basieren. Die Modelle haben gelernt, aufgrund der Beschreibung der Ausgangslage, der Argumente der Befürworter und Gegner sowie des Gesetzestextes das Abstimmungsresultat vorherzusagen. Es gibt qualitative und quantitative Modelle, die entweder ein Ja/Nein prognostizieren oder einen Ja-Wert ergeben.
Mehr dazu gibt es hier: https://www.stellus.ch/

Die Prognosen
Nun die Prognosen von Stellus:

Umsetzung des OECD/G20-Projekts zur Besteuerung grosser Unternehmensgruppen:
Prognose: Ja (Ja-Stimmenanteil 52.5%, 11/23 Stände)
Bundesgesetz über die Ziele im Klimaschutz, die Innovation und die Stärkung der Energiesicherheit:
Prognose: Ja (aber Ja-Stimmenanteil 49.5 % d.h. Nein)
Änderung vom 16. Dezember 2022 des Covid-19-Gesetzes:
Prognose: Ja (Ja-Stimmenanteil 62.1%)

Damit ist ein Ja zum Covid-19-Gesetz eindeutig erwartbar, während es bei der Mindestbesteuerung eher gegeben sein dürfte. Offen erscheint der Ausgang zum Klima- und Innovationsgesetz.
Stellus kommentiert das so: «Ein Widerspruch wie beim Klimagesetz zwischen dem Klassifikationsmodell und dem Regressionsmodell tritt gelegentlich auf. Die Ablehnung durch das Regressionsmodell ist dabei sehr knapp, und ein Ja liegt im Fehlerbereich dieses Modells. Das Klassifikationsmodell gibt gleichzeitig eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine Annahme an, was insgesamt eher für eine Annahme spricht.»

Der Toolvergleich
Ich verfolge die Prognosen von Stellus seit Beginn. Sie sind in der überwiegenden Zahl korrekt, gelegentlich nicht. Wie alle Prognosemodelle!
Das hat mich dazu geführt, zuerst zwischen Ergebnisprognosen und Bestandesaufnahmen zu unterscheiden. Zu ersteren zähle ich die Schlussabstimmungen im Nationalrat, die nach Wählendenstärke gewichteten Ja-Parolen, den Startwert (plus 2 Wochen) der Wettbörse “50plus1” und eben die Inhaltsanalyse des Bundesbüchleins von Stellus. Namentlich die Schlussabstimmungen überschätzen den Ja-Anteil, wenn die Opposition erst im Abstimmungskampf entsteht.
Beobachtungstool mit höchstens indirektem Prognosecharakter sind Umfragen zu Stimmabsichten sowie Medien- und Werbeanalyse während des Wahlkampfs(, die alle noch nicht vorliegen).

Erste Zwischenbilanz
Fasst man das zusammen, ragt das Ja zur 3. Abstimmung über das Covid19 Gesetz heraus. Die Erwartungen liegen bei 60%plus für den Ja-Anteil. Auch bei der OECD-Mindeststeuer ist eine Zustimmungsmehrheit erwartbar. Sie dürfte zwischen 50 und 60 Prozent liegen. Kein Tool geht von einer sicheren Ablehnung aus.
Es bleibt das Klima- und Innovationsgesetz: Hier bleibt der Ausgang … naja! Im Parlament war die Zustimmungsmehrheit noch klar. Bei den Parteiparolen besteht noch etwas Unsicherheit, weil sich die FDP noch nicht entschieden hat; erwartet wird hier aber eine Ja-Empfehlung. Der Startwert der Wettbörse verwies auf eine 87% sichere Ja-Mehrheit von weniger als 60 Prozent. Stellus mit dem faktischen Patt zwischen Ja-Ausgang und minimaler Nein-Mehrheit bis jetzt am skeptischsten. Mitnehmen kann man, dass ein knapper Ausgang möglich ist.
Die Beobachtungstools folgen erstmals in der kommenden Woche. Auf den 3. Mai 2023 werden die Tamedia-Umfragen erwartet. Vielleicht sieht man dann klarer …

Claude Longchamp

#Frischgebloggt: Wie man den Ausgang der eidg. Abstimmungen vom 18. Juni 2032 bereits jetzt abschätzen kann

Die Zwischenbilanz ist eindeutig: Die analytischen Tools gehen unisono von drei Ja-Mehrheiten am 18. Juni aus.

Der Abstimmungskampf zu den nächsten eidg. Volksabstimmungen ist angelaufen. Beim Klima- & Innovationsgesetz sind beide Seiten bereits aktiv. Beim Covidgesetz ist vorerst nur die Gegnerschaft im Kampagnenmodus, bei der OECD Mindeststeuer die Ja-Seite.

Beobachtungsinstrumente, welche die Meinungsbildung (in den Medien, gemäss Werbung oder anhand der Stimmabsichten) messen, liegen so früh naturgemäss nicht vor. Dafür gibt es Tools, die den Abstimmungsausgang analytisch abschätzen. Namentlich sind die die Schlussabstimmungen im Nationalrat, die (erwartete) Stärke der Ja-Allianz und die ExpertInnen-Schätzung gemäss Wahlbörse. Sie sind nicht als direkte oder punktgenaue Prognosen zu verstehen, geben aber ein Eindruck zur Grössenordnung der Zustimmung und Ablehnung resp. sie bezeichnen die Wahrscheinlichkeit von Ja und Nein.

Die Zwischenbilanz zu den analytischen Tools ist eindeutig: Sie gehen unisono von drei Ja-Mehrheiten aus.

Noch fehlen einzelne Parolen, doch können sie aufgrund der Fraktionsentscheidungen (KIG) oder der offensichtlichen Referenzabstimmung (CovidG) mit hoher Wahrscheinlichkeit vorweggenommen werden. Relevant wäre vor allem ein Nein der FDP zum KIG.

Bleibt es wie erwartet, geht der letzte Abstimmungssonntag der jetzigen Legislaturperiode ganz im Sinne der Behörden aus. Die grösste Unsicherheit bei Referenden besteht darin, dass die Grosswetterlage stark misstrauisch wird. Denn dann ist mit Absetzbewegungen quer zu den Parteien zu rechnen.
Das kann man nie ausschliessen, aber es ist aktuell eher unwahrscheinlich.

Claude Longchamp

Eidg. Abstimmungen vom 18. Juni 2023: Vorschau auf Covid19-Referendum

Unsere Voranalyse der dritten Vorlage, über die am 18. Juni entschieden werden dürfte, zeichnet die Ausgangslage entlang vier wichtiger Indikatoren nach, soweit sie jetzt schon klar sind: namentlich sind dies die Parlamentsentscheidung, die Position der Parteien, der Medientenor und den Stimmabsichten.


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Die Pandemie war das grosse Thema der ersten Hälfte der jetzigen Legislaturperiode. Dauerhektik herrschte der Not gehorchend vor. Das Covid-Gesetz musste mehrfach überarbeitet werden. Zweimal haben Massnahmen-GegnerInnen das Referendum ergriffen. Zweimal votierten die Stimmenden mit rund 60 Prozent Ja im Sinne der Behörden. Nun ist ein drittes Referendum mit rund 60000 beglaubigten Unterschriften zustande gekommen, sodass es am 18. Juni erneut zu einer Volksentscheidung kommt.

Parlament
Das Parlament hat die gesetzlichen Voraussetzungen geschaffen, dass die Corona-Massnahmen bis Mitte 2024 verlängern werden können.
Konkret geht es um die Möglichkeit der Versorgung mit wichtigen medizinischen Gütern resp. der Einreise-Beschränkung für AusländerInnen. Auch das Covid19-Zertifikat resp. die SwissCovid-App sollen bei Bedarf reaktiviert werden können.
Im Parlament waren die Meinungen weitgehend gemacht: Der Nationalrat stimmte bei sechs Enthaltungen mit 140 Ja und 50 Nein klar dafür. Geschlossen dagegen votierte nur die Fraktion der SVP; 2 Freisinnige schlossen sich ihr an. Alle anderen Fraktionen ausnahmslos dafür.
Im Ständerat waren bei vier Enthaltungen 39 KantonsvertreterInnen auf der Ja-Seite. Man zählt einzig die Stimme des Berner Standesherrn Werner Salzmann dagegen.
Die Zustimmungsquote in der grossen Kammer betrug damit 70%, in der kleinen gar 85%. Der Anteil aus dem Nationalrat gilt als besserer Prädiktor für den Volksentscheid, auch wenn er häufig etwas zu hoch ausfällt. Das spricht für Annahme der Vorlage mit weniger als 70 Prozent Ja-Stimmen.

Referendum
Die Unterschriftensammlung wurde von «Mass-voll» und den «Freunde der Verfassung» organisiert. Ihnen schlossen sich weitere regionale Gruppierungen sowie die EDU, die Piratenpartei und die Libertäre Partei an. Hinzu kamen vereinzelt auch rechtsbürgerliche Politiker.
Die Prüfung der Unterschriften steht noch aus, weshalb man die genaue Zahl nicht kennt.
Aus der Forschung weiss man, dass die Unterschriftenzahl bei fakultativen Referenden kein zuverlässiger Indikator für dem Abstimmungsausgang ist. Sie zeigt nur an, ob eine rasch handlungsfähige Organisation existiert.
Das Argumentarium der Gegnerschaft ist weitgehend bekannt. Es steht unter dem pauschalen Vorwurf, die Behörden würden das Ende der Pandemie leugnen, um Freiheiten einschränken zu können. Kritisiert wird auch, dass verschiedene Massnahmen nicht die angegebenen Effekte gezeigt hätten. Dabei baut man auf einem generellen Regierungs- oder Behördenmisstrauen auf.

Parolen
Die Parolenfassung blieb angesichts der langen Unsicherheit, ob es überhaupt zu einer Abstimmung kommt, hinter der der beiden anderen Vorlagen zurück. Nur die GLP hat schon vorgängig die Ja-Parole gefasst. Da sie die Partei mit der höchsten Parolenkongruenz zu den Stimmenden in der laufenden Legislaturperiode ist, verstärkt das den Eindruck der Mehrheitsfähigkeit der Vorlage.
Eine präventive Parole haben die Jungfreisinnigen und die Junge Mitte beschlossen. Die Delegiertenversammlung der JF entschied sich angesichts der knappen Verhältnisse für die Stimmfreigabe. Die Junge Mitte kritisierte dies postwendend; sie hatte kurz davor ein Ja herausgegeben.
Bei den Mutterparteien rechnet man damit, dass die SVP sich dem Nein-Lager anschliesst; SP, FDP, Mitte, Grüne und dürften den Gegenpol bilden. Interessant wird sein, ob es insbesondere bei der FDP abweichende Parolen auf Kantonsebene gibt oder nicht.
Bleiben von den Parlamentsparteien die SVP und die EDU allein im Nein, umfasst die zustimmende Allianz auf minimal 69%. Auch das verweist auf eine Annahme
Auch dieser Wert dürfte mit Blick auf die Volksentscheidung zu hoch sein. Denn die existierende ausserparlamentarische Opposition wird so nicht erfasst. Für einen Mehrheitswandel dürfte aber auch das nicht reichen.

Abstimmungskampf
Namentlich die Bankenkrise, ausgelöst durch die Fusion der CS mit der UBS samt staatlicher Unterstützung, prägt die politische Grosswetterlage aktuell stärker als das Abstimmungsgeschehen.
Mehrere Umfragen zu den Prioritäten der Stimmberechtigten im Wahljahr legen nahe, dass ihre Aufmerksamkeit 2022 sprunghaft nachgelassen hat. Neu sind anderen Themen wie die Rentenfrage, Gesundheitskosten, aber auch die Inflation und Lebenshaltungskosten wichtiger geworden.
Der spezifische mediale Abstimmungskampf hat erst begonnen. Die Einreichung der Referendumsunterschriften lösten einen ersten Peak namentlich bei der Gegnerschaft aus. In den sozialen Medien erzeugten AktivistInnen eine beachtliche Welle aus.
Erwartet wird ein Abstimmungskampf unter bekannten Voraussetzungen. Er dürfte weniger intensiv ausfallen als bei den beiden früheren Entscheidungen in der gleichen Sache. Das spricht gegen einen starken Mobilisierungsfall durch die Covid-Vorlage, wie wir es insbesondere im November 2021 erlebt hatten.

Referenzabstimmungen
Naheliegend ist es, die beiden ersten Abstimmungen über das Covid19-Gesetz als Referenzen heranzuziehen. Die Medienanalyse des fög zeigte, dass die Medienaufmerksamkeit Ende 2021 – auf dem Höhepunkt der Kontroverse – sehr hoch war, der Tenor aber immer positiv blieb (59:41). Bei der Abstimmung vom 26. Nov. 2021 war es medial die Leadvorlage. Deutlich geringer war die Themensichtbarkeit am 14. Juni 2021, als das erste Mal über abgestimmt wurde. Auch das war der Tenor mehrheitlich positiv (56:44).
Zu erwarten ist, dass die Verhandlungen in den Massenmedien diesmal ähnlich wie bei der ersten Abstimmung sein werden.
Die Voranalysen auf Befragungsbasis beiden Volksabstimmungen zeigten übereinstimmend, dass die Ja-Seite stets im Vorsprung war. Der Abstimmungskampf der Gegnerschaft mobilisierte am ehesten Unschlüssige. Doch handelte sich um weitgehend positiv vorbestimmte Entscheidungen.
Die Zustimmungsraten variierten zunächst nach politischen Gesichtspunkten (mehrheitlich Nein nur an der SVP Basis, nicht einmal bei Parteiungebundenen, aber Minderheiten in allen Lagern) sowie entlang dem Alter. Je höher dieses ist, desto klarer werden die Massnahme unterstützt.
Heute ist die Situation etwas anders, da sich auch die mainstream-Presse offener für Massnahmenkritik gibt. Beispielsweise kommt Friedenforschers Daniele Ganser mehr zu Worte. Das bestätigt, dass die Entscheidung zur Zustimmungshöhe vom rechtslibertären resp. –bürgerlichen Verhalten im Abstimmungskampf abhängen wird.

Bilanz
Ich rechne mit einer eindeutigen Annahme der Vorlage, vergleichbar mit den bisherigen Mehrheiten. Die beiden vorliegenden resp. abschätzbaren Indikatoren zum politischen Konflikt sprechen dafür.
Neu ist, dass die Bedrohungslage kleiner ist als 2021. Dafür dürfte auch die dritte Entscheidung in kürzester Zeit zu einer pauschalen Beurteilung wie bisher sorgen.

#Bankenkrise: Mehrheitliche Skepsis gegenüber der vorliegenden Uebernahme

Die erste Umfrage vin gfs.bern zur Bankenkrise zeigt: Wut und Verunsicherung bei einer Mehrheit der Schweizer Stimmberechtigten. Die Unterstützung des Bundes für die Übernahme der CS durch die UBS stößt entsprechend auf Skepsis. 35% sind eher einverstanden, 54% eher nicht.


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Quelle: Swissinfo.de

Drei Forderungen werden mehrheitlich stark akzeptiert; es sind dies:
Die Verantwortlichen für die VS Strategie müssen zur Rechenschaft gezogen werden.
Es brauche griffige Massnahmen gegen die Abzockerei im Bankenwesen.
Es müsse aufhören, dass die Gewinne privat und die Risiken verstaatlicht würden.

Den höchsten Werte für die Glaubwürdigkeit findet sich bei der Schweiz. Nationalbank. Es folgen der UBS-Verwaltungsrat resp. der Bundesrat.
Unter den Parteien führt die SP, gefolgt von der Mitte, den Grünen, der SVP, der GLP und der FDP.
Das Management der CS findet sich am Ende der Skala.

Die lässt die Schlüsse zu, dass die Aufwallung der öffentlichen Meinung hoch ist, harte Forderungen gegenwärtig durchaus akzeptiert werden und die Hauptakteure glaubwürdig sind. Parteipolitisch dürfte Mitte/Links profitieren dürfte, allen voran die SP.

Bestellt wurde die Umfrage von SFRNews nach der Entscheidung der Behörden. Durchgeführt wurde die Umfrage mittels offener Online-Umfrage, die nachträglich gewichtet wurde. Hier der ganze Forschungsbericht:
https://www.gfsbern.ch/de/news/

Eidg. Abstimmung über der Klima- und Innovationsgesetz: Vorteil für die Ja-Seite, Restunsicherheit bleibt

Die Umsetzung der Energiewende ist ein zentrales Thema der jetzigen Legislaturperiode. Der erste Versuch scheiterte. Nun kommt es mit dem Klima- und Innovationsgesetz zu einer modifizierten Zweitauflage. Analyse.

Inhalt
Das «Bundesgesetz über die Ziele im Klimaschutz, die Innovation und die Stärkung der Energiesicherheit» (kurz KIG) verankert das Netto-Null-Ziel in der Schweiz bis 2050. Der Bund wird aufgefordert, die Treibhausgasemissionen soweit wie möglich schrittweise zu reduzieren. Verbleibenden Emissionen sollen kompensiert werden. Denkbar sind dabei Aufforstungen, die Speicherung von CO2 im Boden oder die Gewinnung von Bioenergie. Zudem fördert das neue Gesetz Innovationen bei der Energiegewinnung. Und es subventioniert den Ersatz von fossilen Heizungen mit einem Implusprogramm von 200 Mio. CHF.
Abgaben wie im 2021 gescheiterten CO2-Gesetz sind im neuen Vorlage nicht keine vorgesehen.
Trotzdem versteht das Parlament das Gesetz als relevante Roadmap zur Erreichung der Klimaziele im Pariser Klimaabkommen.

Uebersicht über die vier wichtigsten Indikatoren zum Abstimmungsausgang beim Klima- und Innovationsgesetz vom 18. Juni 2023

• Nationalrat: Ja in der Schlussabstimmung/200
• Parolenspiegel: % NRW 2019 des Ja-Lagers
• Medientenor: fög Index
• Umfragen: SRG/gfs Erhebungen

Parlament
Das KIG entstand im Wesentlichen im Parlament. Es wird vom Bundesrat befürwortet. Es versteht sich als indirekter Gegenvorlage zur Gletscherinitiative. Deren InitiantInnen sind bei Annahme des KIG in der Volksabstimmung zum Rückzug bereit.
In der Schlussabstimmung ging die Vorlage mit 139:51 im National- und mit 39:4 im Ständerat durch. Bei Parlamentarierinnen und Parlamentariern der SP, Grünen, GLP und Mitte war das Vorhaben unbestritten. Vereinzelte skeptische Stimmen gab es in den Reihen der FDP. Die SVP stellte sich komplett dagegen.

Referendum
Ein Komitee aus SVP-Grössen hat erfolgreich das Referendum ergriffen. Trotz anfänglichen Schwierigkeiten kam 104’000 Unterschriften zusammen; 50000 wären nötig gewesen.
Gemäss dem Argumentarium der Nein-Seite stösst man sich daran, dass die Stromproduktion zurückgehe und damit die Preise erhöhe. Gekämpft wird deshalb plakativ gegen das sog. “Stromfressergesetz”. Es sei teuer, beinhalte Vollmachten und verlange staatliche Umerziehungsmassnahmen.
Im Dezember 2022 haben sich die Vorzeichen der Volksabstimmung etwas geändert. Denn dem federführenden UVEK steht nach dem Rücktritt von BRin Simonetta Sommaruga (SP) BR Albert Rösti (SVP) vor, selber Mitglied des Referendumskomitees. Er wird im Abstimmungskampf die Position des Bundesrats gegen seine eigene Partei vertreten müssen. Seine Partei wird auf die bekannten personalisierten Angriffe verzichten, aber die Politik der Energiewende umso klarer in Frage stellen.

Parolen
Bis jetzt haben drei Parteien eine Ja-Parole gefasst. Die SP, die FDP und die Mitte sind dafür. Die SVP ist selbstredend dagegen.
Verhalten sich die Parteien gleich wie ihre Mitglieder im Parlament, wird das Ja-Lager durch Parolen der Grünen, der GLP und der EVP verstärkt werden. Die SVP wäre damit parteipolitisch isoliert.
Auf der Ja-Seite befinden sich vor allem Wirtschaftsverbände, aber auch kirchliche Organisationen. Dagegen ausgesprochen habt sich vorerst nur der Hauseigentümerverband. Casafair, eine kleine Vereinigung von HauseigentümerInnen, widerspricht ihm allerdings.

Abstimmungskampf
Die Vorlage ist nicht selbstredend, sie muss erklärt werden. Es besteht in Informationsbedarf im Abstimmungskampf.
Der mediale Abstimmungskampf hat noch nicht begonnen. Es ist mit einem kurzen aber heftigen Abstimmungskampf zu rechnen, der auf ein breites mediales Interesse stossen dürfte. Entscheidend wird sein, ob es beispielsweise in der FDP, allenfalls auch der Mitte zu einem Elite/Basis-Konflikt kommt. Warnhinweise dafür wären ParlamentarierInnen mit Nein-Werbung.
Im Mitte/Links-Lager dürften die Zustimmungsmehrheiten gesichert sein.

Referenzabstimmung
Aehnlich war das Konfliktmuster beim C02-Gesetz. Im Parlament ging die Vorlage mit einer ähnlichen Unterstützungsallianz durch. Der Elite-Basis-Konflikt brach erst im Abstimmungskampf auf.
Dabei mobilisierte die Nein-Seite besser als das Ja-Lager. Hilfreich war die Kombination der Vorlage mit den Agrarinitiativen, vom Bauernverband exemplarisch bekämpft.
Die Zustimmungsbereitschaft sank entsprechend in den letzten Wochen vor der Abstimmung knapp unter 50 Prozent.

Ausblick
Alles spricht für eine labil vorbestimmte Vorlage mit Vorteilen für die Ja-Seite sprechen. Abschliessend gemacht sind die Meinungen nicht. Ohne überraschende Ereignisse im Abstimmungskampf dürfte die Mehrheit dafür bleiben.
Bei einem Ja würde das modifizierte Regierungslage ohne SVP, aber mit GLP gestärkt werden. Denn eine grosse Baustelle der Legislaturperiode konnte mit einem breiten Kompromiss gerade noch rechtzeitig begradigt werden. Sollte die SVP mit ihrem Nein durchkommen, wäre das scharfe Munition für ihren Wahlkampf und die beste Legitimation für BR Rösti, bei der Umsetzung der Energiewende eine Neuanfang zu wagen.

Eidg. Abstimmung über die OECD Mindeststeuer: Vorteile für Ja-Seite, Ausgang etwas offen

Steuerfragen sind Interessensfragen. Sie polarisieren nach der Nutzen-/Schadenseinschätzung. Das ist auch bei der OECD-Mindeststeuer der Fall. Umstritten ist nicht die Einführung an sich, aber die Umsetzung .

Vorlage
Rund 140 Staaten, darunter auch die Schweiz, haben sich dazu bekannt, dass grosse, international tätige Unternehmensgruppen mindestens 15% Steuern auf ihrem Gewinn bezahlen müssen.
Bundesrat und Parlament wollen das für grosse, international tätige Unternehmensgruppen mit mindestens 750 Mio. CHF Umsatz die Mindestbesteuerung realisieren. Für alle übrigen Unternehmen wird sich nichts ändern. Betroffen sind einige hundert Schweizer und über etwas 1000 ausländische Firmen in der Schweiz. 99 Prozent der Firmen sind nicht betroffen. Für diese Ungleichbehandlung muss in der Verfassung eine Grundlage geschaffen werden.
Die national Umsetzung muss Ende 2023 erfolgt sein.

Uebersicht über die vier wichtigsten Indikatoren zum Abstimmungsausgang bei der OECD Mindeststeuer vom 18. Juni 2023

• Nationalrat: Ja in der Schlussabstimmung/200
• Parolenspiegel: % NRW 2019 des Ja-Lagers
• Medientenor: fög Index
• Umfragen: SRG/gfs Erhebungen

Parlament
Im Parlament war nur die Verwendung der erwarteten Mehreinnahmen von 1-2.5 Mia. CHF umstritten.
Die bürgerliche Mehrheit setzte sich für eine Rückvergütung von 75% an die Kantone ein, während 25% beim Bund bleiben sollten. Rotgrün hatte für eine Teilung von 50/50 optiert.
In der Schlussabstimmung passierte die Vorlage recht klar mit 127 zu 59 Stimmen im Nationalrat, mit 38 zu 2 Stimmen im Ständerat. Dafür waren VertreterInnen der SVP, FDP, Mitte und GLP, dagegen SP und Grüne.

Parteiparolen
Drei Parteien haben ihre Parolen für die eidg. Abstimmung vom 18. Juni 2023 bereits gefasst. Die FDP und Mitte und sind erwartungsgemäss im Ja-Lager, die SP entscheid sich für ein Nein. Der neue Parteirat hatte zuvor Stimmfreigabe empfohlen, doch der Parteitag wollte eine klare Aussage.
Erwartet wird, dass SVP und GLP noch ein Ja, die Grünen ein Nein beschliessen werden. Das spricht für eine maximale Polarisierung entlang der ökonomischen Rechts/Links-Achse.
Allerdings gibt es in beiden Lagern prominente Abweichungen, die im Abstimmungskampf noch auftauchen dürften. Innerhalb der SP befürwortet ex- Bundesratskandidatin und Ständerätin Eva Herzog aus Baselstadt die Vorlage. In der Mitte unterstützte Bauernverbandspräsident Markus Ritter während der Detailberatung die Position von links, denn der Bund sein auf Einnahmen angewiesen.

Abstimmungskampf
Das Abstimmungskampf zur Mindeststeuer hat eben eerst begonnen. Vorbereitet erscheint vor allem das Ja-Lager mit economiesuisse in der Hauptrolle. Dafür ausgesprochen haben sich auch zahlreich weitere Wirtschaftsverbände und der Schweizerische Gemeindeverband.
Drei Hauptbotschaften der Ja-Seite zeichnen sich ab:
• keine Steuergeschenke ans Ausland,
• Erhaltung der Schweizer Attraktivität und
• Absicherung staatlicher Leistungen.
Die Nein Seite tritt noch nicht organisiert auf. Konsequent dagegen argumentieren namentlich VertreterInnen der Entwicklungshilfeorganisation Alliance Süd.

Referenzabstimmungen
Eine direkte Referenzabstimmung fehlt; indirekt können aber verschiedene Volksabstimmung zu Steuervorlagen der jüngsten Zeit beigezogen werden. Namentlich sind das
• Unternehmenssteuerreform III,
• Stempelabgabengesetz und
• Verrechnungssteuergesetz.
Ihnen gemeinsam ist, dass sie im Parlament angenommen wurden, im Abstimmungskampf von links her umstritten waren und der Volksabstimmung scheiterten.
Das spricht für eine labil vorbestimmte Vorlage mit Vorteilen für die Ja-Seite, wobei der Abstimmungskampf entscheidet. Diesmal sind die Auswirkungen auf der individuellen Ebene allerdings geringer, sodass die Entscheidung auf der Ebene der Umsetzung, wo das Image der grossen internationalen Unternehmen entscheidet.

Auswirkungen auf die Wahlen im Herbst

Sollte die Linke gewinnen, wäre es vor allem ein Vorteil für die SP für den Wahlkampf. Bei einem Ja ist nicht mit Auswirkungen für eine Partei zu rechnen, aber für die bürgerliche Steuerpolitik.

Claude Longchamp

Veränderte Grosswetterlage wirkt sich auf Wahlabsichten aus

Heute veröffentlichte die Tamedia-Gruppe die erste nationale Wahlumfrage des Wahljahres 2023. Sie zeigt die aktuellen Parteistärken in der Schweiz. Das verstärkt den Eindruck der Restabilisierung. Es legt nahe, dass bei den Nationalratswahlen 2023 die Reihenfolge der Parteien wie vor den Wahlen 2019 wiederhergestellt werden dürfte.


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Die Grünen verlieren in der Umfrage von LeeWas am meisten und liegen hinter der Mitte, wie das vor 2019 bezogen auf die CVP der Fall war. Diese dürfte sich dank der Fusion von CVP und BDP den vierten Platz unter den Parteien und damit einen Bundesratssitz gesichert haben. Dagegen dürften die Aussichten der Grünen auf einen Sitz in der Landesregierung erneut getrübt worden sein.
Die SVP bleibt gemäss Umfrage die grösste Partei. Sie könnte 1.9% zulegen. Leichte Gewinne gäbe es auch für die GLP (+0.7%). Alles andere ist definitiv im Streubereich der Umfrage. Letztlich heisst das, SP, FDP und Mitte haben sich nach den Verlusten 2019 wieder stabil sind.
Nur bei der GLP ist demnach eine Trendfortsetzung von 2019 möglich. Bei den Grünen und der SVP handelt es sich um JoJo-Effekte. Sie gewinnen resp. verlieren einen Teil von dem, was sie 2019 verloren resp. gewonnen haben. Die Pole sind damit nicht stabil. Das deutet auf veränderte Mobilisierung hin.

Vergleiche mit anderen Umfragen und mit kantonalen Wahlen in Zürich
Final ist der Befund nicht. Bis zu den Wahlen 2023 vergehen noch acht Monate.
Die aktuelle Momentaufnahme ist allerdings nicht beliebig. Denn sie bestätigt einiges, was schon das Wahlbaromter der SRG 2022 vorgezeichnet hat. Auch damals verloren Grünen am meisten. Allerdings war die GLP noch im Plus. Das galt auch für die FDP. Der damals diagnostizierte liberale Aufschwung nach der Pandemie-Phase könnte geschwächt worden sein.
Qualitativ werden mit der neuen Umfrage die Ergebnisse der realen Wahlen im Kanton Zürich bestätigt. Auch das verloren die Grünen am meisten, und es legte die SVP am meisten zu. Der Rest fiel in Zürich so gering aus, dass wir schon damals von stabilen Ergebnissen gesprochen haben.
Quantitativ sind die Ausschläge an den Polen aber nicht identisch. Grüne verlieren in der aktuellen Umfrage mehr, auch die SVP gewinnt mehr. Ganz überraschend ist das nicht. Denn die Prognose aus den Zürcher Ergebnissen besagt nur, wer bei den nationalen Wahlen zulegen kann oder verlieren wird, nicht aber wie fiel das sein wird.

Veränderte Grosswetterlage
Den Hauptgrund für den aktuellen Umschwung sehe ich in der veränderten Grosswetterlage. 2019 stand ganz im Zeichen der Klimawahl, geprägt durch einen langen Wahlkampf. 2023 wird durch den Krieg in der Ukraine bestimmt, der auch schon ein Jahr dauert. Der mainstream ging 2019 von den ökologischen Parteien aus. 2023 bieten sich verschieden Kriegsfolgen an: die Flüchtlinge, aber auch die Lebenshaltungskosten kommen vor allem in Frage. Ersteres wird von rechts her bewirtschaftet, letzteres von links her. Aktuell spricht einiges dafür, dass die Wirkungen der Flüchtlingsfrage etwas grösser ist.
Auch das ist nicht ganz überraschend. Denn aus der langjährigen Erfahrung mit Schweizer Wahlkämpfen wissen wir, dass Umwelt- oder Migrationsfragen im weitesten Sinne die entscheidenden Themen im Wahljahr sind: 2003 (Klima), 2011 (Atomenergie) und 2019 (Klima) war es ersteres, 2007 (Ausschaffung) und 2015 (Flüchtlinge) zweiteres. 2023 könnte auch da das Pendel zurückschlagen.

Ein Wissenschafter mit Strahlkraft – zum Tod von Andreas Ladner

Original in der NZZ,14.2.23

Der Politologe Andreas Ladner ist unerwartet 65-jährig verstorben. Die Schweizer Öffentlichkeit verliert eine wichtige Stimme.


Klare Sprache, kluge Einordnungen: Andreas Ladner.

Mit Andreas Ladner ist ein Pionier der Politikwissenschaft in der Schweiz kurz vor seiner Pensionierung unerwartet von uns gegangen. Eine seltene Kombination zeichnete ihn aus: Ladner war mustergültiger Forscher, begeisternder Dozent und gefragter Gesprächspartner in der Öffentlichkeit.

Der 1958 geborene Zürcher war vielerorts zu Hause. Er studierte an der Universität Zürich Soziologie, Volkswirtschaft sowie Publizistik und promovierte 1990 mit einer Arbeit über die Schweizer Gemeinden. Privatdozent wurde er an der Universität Bern, wo er auch als Assistenzprofessor wirkte. In Lausanne bekleidete er eine ordentliche Professur für Schweizerische Verwaltung und Institutionelle Politik. Dort war er auch seit 2016 Direktor des IDHEAP, des Hochschulinstituts für öffentliche Verwaltung. Er verfasste mehrere politologische Handbücher, die in verschiedenen Sprachen erschienen und seine Bedeutung als Wissenschafter belegen.

Schon früh stellte Ladner seine Kompetenz dem Schweizerischen Nationalfonds und dem nationalen Forschungsschwerpunkt NCCR Democracy als Projektleiter zur Verfügung. Mit Smartvote begleitete er ein erstes Projekt der digitalisierten Politik in die Praxis. Die Universität Zürich beauftragte ihn, ein Zentrum für Demokratie in der Schweiz mitzuplanen. Und durch seine Einschätzungen zur Schweizer Politik war er weit über den akademischen Raum hinaus bekannt: Für die Medien war er ein geschätzter Gesprächspartner, weil er klug einordnete, klar sprach und schnell zur Sache kam.

Kennengelernt habe ich Andreas Ladner Mitte der 1980er Jahre. Wir waren beide von der SP Schweiz eingeladen, neue Wege der Verjüngung der Partei durch Wahl- und Mitgliederwerbung zu suchen. Dabei entdeckten wir schnell gemeinsame Interessen.

Unsere Wege kreuzten sich bis in die jüngste Zeit immer wieder. So war ich meist auch über die weniger bekannten Tätigkeiten Ladners im Bild. Zum Beispiel, dass die Migros ihn einst beauftragte, den Nutzen der Investitionen in den Landesring der Unabhängigen (LdU) zu erforschen. Oder dass ihn die damals noch jungen Grünliberalen des Kantons Zürich zu den Chancen einer eigenen Ständeratskandidatur befragten. Oder dass ihn die SVP Schweiz als Experten zur Frühjahrsklausur nach Bad Horn einlud, als die Partei in die Opposition drängte.

Ladner verzichtete in seinen Analysen auf Provokationen und präferierte stattdessen die faktenbasierte Vermittlung und den Kompromiss. Die staatliche Unterstützung der Parteien sah er in der Konkordanzdemokratie als herausfordernde Notwendigkeit, damit ein komplexes Land wie die Schweiz politisch funktionieren kann.

Als langjähriger Gastdozent in seinen Kursen weiss ich auch: Zahlreiche ehemalige Studentinnen und Studenten Ladners sitzen heute im Stände- oder im Nationalrat, wirken in verschiedenen Kantonen als Volksvertreter, arbeiten in der Verwaltung von Gemeinden, Kantonen und Bund, sind als Parteipräsidenten, Verbandsfunktionäre oder Politaktivistinnen tätig. Der Politologe Ladner hat mehr als eine Generation von Leistungsträgern des schweizerischen Milizsystems ausgebildet und geprägt.

Die vielen Reaktionen auf die Publikation seiner Todesanzeige bezeugen die Wertschätzung ihm gegenüber. Er sei ein Menschenfreund, ein unaufgeregter Ratgeber, ein mitreissender Mentor und ein hochanständiger Berufskollege gewesen, lautete der Tenor.

Andreas Ladners Ableben ist ein grosser Verlust für die Schweizer Öffentlichkeit. Das Beileid gilt seiner Familie, seinen Freunden, seinen Weggefährten und allen Personen, denen nun ein wertvoller Mensch fehlen wird.

Claude Longchamp, Bern

Claude Longchamp zu den Baselbieter Wahlen: «Im Baselbiet werden die Weichen neu gestellt»

Original in der BZB, 12.2.23

Politikwissenschaftler Claude Longchamp analysiert, wie EVP-Kandidat Thomi Jourdan bei den Baselbieter Regierungswahlen den Coup geschafft und welche Fehler die SVP gemacht hat.

Herr Longchamp, wie gross ist Ihre Überraschung über den Ausgang der Baselbieter Wahlen?

Claude Longchamp: Es ist eine Überraschung mit Ansage. Nüchtern betrachtet herrscht extreme Stabilität im Kanton Baselland. Alle vier Bisherigen wurden wiedergewählt, sogar in der gleichen Reihenfolge wie 2019. Wenn man bedenkt, was in den vier Jahren alles passiert ist – Klimawahl, Frauenwahl, Pandemie, Ukraine-Krieg, Energiekrise – ist das ein Zeichen höchster Stabilität.

Bemerkenswert ist ja Platz 5, wo EVP-Kandidat Thomi Jourdan die anfängliche Favoritin Sandra Sollberger klar hinter sich liess.

Schon Thomas Weber landete als SVP-Regierungsrat vor vier Jahren auf dem fünften Platz. Damals aber mit einer hausinternen Konkurrenz. Dieses Mal gab es eine Bewerbung aus der politischen Mitte. Das war eine neue Ausgangslage: Zuvor gab es immer eine klare Polarisierung mit bürgerlich gegen Rot-Grün. Jetzt kam die Möglichkeit des Ausgleichs dazu.

Wo sehen Sie die Gründe für den Coup von Thomi Jourdan?

Er war eine unkonventionelle EVP-Kandidatur: Ein Managertyp, der einen offensiven und für seine Partei extrem personalisierten Wahlkampf geführt hat, der sich auch nicht auf die klassischen EVP-Themen beschränkte. Schon alleine sein Einsatz von Plakaten und Werbemittel ist nicht typisch für die EVP. Er schaffte es, dass plötzlich Spannung im Baselbieter Wahlkampf aufkam.

Sandra Sollberger als anfängliche Favoritin kam dagegen nie richtig auf Touren.

Sie war von Anfang an umstritten. Vielen ist sie politisch zu rechts. Zudem wurden Zweifel an ihrer Kompetenz geäussert. Dazu kommt ein Wahlkampf, der als ziemlich misslungen bezeichnet werden muss. Spätestens nach dem Podium bei der Handelskammer war die Kritik auch von Partnern und auch aus den eigenen Reihen nicht mehr zu überhören. Als Effekt resultierte ein völlig defensiver Wahlkampf, der darauf ausgerichtet war, möglichst wenig Fehler zu machen – für die SVP eine völlig untypische Rolle. Das gab einen Rollenwechsel: Jourdan war in der Offensive und Sollberger in der Defensive. Aus diesem Überraschungsmoment kam Frau Sollberger nicht mehr raus. Deshalb war es eine überraschende Wahl mit Ansage.

Die SVP hat von Beginn weg auf Sandra Sollberger als einzige Variante gesetzt und auch bei den bürgerlichen Partnern war kaum mehr als ein Aufmucken zu hören. War das ein taktischer Fehler?

Die Grundregel bei Konkordanz-Wahlen ist: In die Exekutive werden mehrheitsfähige Personen gewählt, die nicht allzu stark anecken und vertretbar sind für andere Parteien. Die SVP ist aber in den vergangenen Jahren immer wieder mit Kandidaten angetreten, die dieses Profil nicht erfüllt haben. Man wollte den Erfolg erzwingen. So gesehen war Sollberger eine nachvollziehbare Kandidatin. Eher überraschend war für mich, dass dieses Vorgehen in den bürgerlichen Parteien mit verhaltenster Kritik geschluckt wurde mit dem Ziel, so die Regierungsmehrheit zu sichern.

Was bedeutet es für Thomi Jourdan, Regierungsrat zu sein als Vertreter einer Kleinstpartei?

Das ist ein Vertrauensvorschuss in ihn als Person, politisch aber eine Herausforderung. Schweizweit gesehen ist es nicht ein ganz neues Phänomen. Für mich ist die Wahl ein Ausdruck, dass sich das politische Zentrum im Umbruch befindet und neu formiert. Es wird nicht mehr eindeutig von der Mitte, also der früheren CVP besetzt. Bisher hat man vor allem den Grünliberalen zugetraut, hier die Parteienlandschaft neu zu prägen. Die EVP hatte man eher weniger auf der Rechnung. Wenn man aber die kantonalen Wahlen dieser Legislatur anschaut, hat diese nach den Grünliberalen und den Grünen die drittbeste Bilanz.

Welche Schlüsse kann man aus dem heutigen Tag für die nationalen Wahlen im Herbst ziehen?

Mir fällt auch bei den Parlamentswahlen die grosse Stabilität auf. Luft ist bei der GLP drin, wohl zu Lasten der Grünen. Und es baut sich sachte etwas Neues rund um die Mitte-Partei auf. Was auch die Wahlen im Kanton Zürich gezeigt haben: Allen disruptiven Ereignissen zum Trotz bleiben die Verhältnisse stabil. Die Stimmbevölkerung reagiert auf die Verunsicherungen nicht mit Wut, was eine Voraussetzung für Änderungen wäre, sondern mit Angst, was den Status Quo stärkt.