The closed window of opportunity

Die heute erscheinende VOX-Analyse zu den Volksabstimmungen vom 9. Juni 2013 legt nahe, dass bei der Entscheidung über die „Volkswahl des Bundesrates“ die Grundhaltung gegenüber der Regierung den Abstimmungsentscheid systematisch beeinflusst hat. In einem Artikel für die Festschrift von Fritz Plasser, Dekan der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Innsbruck, bin ich diesem mutmasslichen Wirkungszusammenhang vertieft nachgegangen.

Die VOX-Analysen eidgenössischer Volksabstimmungen haben eindeutige Stärken: Sie zeigen auf, wer wie gestimmt hat, und sie machen deutlich, welche Einstellungen für den Stimmentscheid von Belang waren. Zu den diesbezüglichen Erklärungsgrössen gehört unter anderem das Behördenvertrauen. Was naheliegend schien, bestätigt die jüngste VOX-Analyse: das Regierungsvertrauen beeinflusste die Entscheidung zur Volkswahl des Bundesrats. Wer dem Bundesrat vertraute, war vermehrt gegen die Direktwahl. Wer Misstrauen in die Landesregierung bekundigte, sprach sich eher für die Initiative aus. Der statistische Zusammenhang kann nicht nur bivariat nachgewiesen werden; er besteht auch multivariat.  Das heisst, das Regierungsvertrauen ist auch dann noch mitentscheidend für den Stimmentscheid, wenn weitere Erklärungsgrössen im Modell berücksichtigt wurden.

Bei den VOX-Analysen handelt es sich um Fallstudien. Woran es ihnen häufig mangelt ist einerseits eine vergleichende Perspektive und andererseits die Einbettung in langfristige Trends. Letzterem habe ich mich – parallel zur Ausarbeitung der VOX-Studie durch ein Team von Politologen der Uni Genf – im besagten Artikel angenommen. Die Hauptergebnisse sind:

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Erstens: Das Regierungsvertrauen ist bei weitem nicht konstant. Seit 1989 haben wir zwei grosse Zyklen der Erosion und des Wiederaufbaus des Regierungsvertrauens erlebt. Die erste Erosion begann mit dem Ende des Kalten Krieges und der Entscheidung über den EWR. Nach zwischenzeitlicher Erholung gegen Ende des 20. Jahrhunderts beobachtete man einen neuerlichen Rückgang des Regierungsvertrauens, der durch die Volksabstimmung zum UNO-Beitritt 2002 ausgelöst wurde. Nachdem man 2004 den absoluten Tiefpunkt beobachten konnte, normalisierte sich die Lage bis ins Jahr 2008 jedoch erneut.

Zweitens: Die zentrale Ursache für die jeweilige Erosion des Vertrauens war die Öffnung der Schweiz gegenüber Europa resp. der Welt, welche zweimal markant vom Bundesrat (mit)betrieben wurde. Die Folgen für das Parteiensystem sind bekannt: Der erste Zyklus polarisierte vor allem zwischen der  SVP und der SP; der zweite brachte eine konservative Wende mit sich, die insbesondere der SVP nützte.

Drittens: Die Veränderungen im Parteiensystem haben die Zauberformel für die Wahl des Bundesrates ausser Kraft gesetzt. 2003 verflog mit der Abwahl von Ruth Metzler (CVP) zugunsten von Christoph Blocher (SVP) der Zauber und spätestens 2007/8 war das Ende der Formel dann definitiv besiegelt. Die SVP ging vorübergehend in die Opposition, einen ihrer beiden Sitze hat sie 2009 zurückerhalten. Was mit dem anderen Teil geschieht, bleibt indes offen.

Viertens: Die Rochade von 2003 hat das Vertrauen der SVP-Anhänger in die Regierung nicht wirklich erstarken lassen, allerdings dasjenige der anderen Parteianhängerschaften wesentlich geschmälert. Anders als in parlamentarischen Systemen üblich hat die Regierungsumbildung in der Schweiz nicht das Vertrauen in die Behörden gestärkt, sondern eher das Misstrauen ansteigen lassen.

Fünftens: Wenn sich die Lage seit 2008 dennoch veränderte, so hatte das weniger mit den politischen Ereignissen zu tun, als mit der wirtschaftlichen Lage. Spätestens seit 2010 zeigen die Wirtschaftsindikatoren nach oben und die vorteilhafte Lage der Schweiz wurde namentlich im Vergleich zum Ausland augenfällig. Das hat das Behördenvertrauen wieder ansteigen lassen.

 

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Die SVP-Volksinitiative für eine Volkswahl des Bundesrates entstand als Folge der Abwahl von Christoph Blocher aus dem Bundesrat. Entsprechend aufgezogen war die Kampagne: Den Machenschaften in der Vereinigten Bundesversammlung kurz vor Bundesratswahlen sollte durch den Systemwechsel ein Riegel vorgeschoben werden. Hätte sich das politökonomische Umfeld in den letzten Jahren nicht derart verändert, wäre die Argumentation im Abstimmungskampf wohl besser zum Tragen gekommen. Die guten Wirtschaftszahlen der vergangenen Jahre haben das Klima gegenüber Bundesbern in der Schweiz allerdings grundlegend verändert, sodass weder die Problemdiagnose der SVP, noch die mitgelieferten Verbesserungsvorschläge folgerichtig erschienen.

Man kann sich darüber hinaus auch die grundsätzliche Frage stellen, ob das window of opportunity für politische Kampagnen,  die auf institutionellem Versagen des schweizerischen Politsystems aufbauen, nicht schon wieder geschlossen ist. Geöffnet wurde es offensichtlich in den 90er Jahren, parallel zur Kritik an der Migrationspolitik. Die Wirkungen auf die Schweizer Politik waren erheblich. Seit 2008 befinden wir uns aber in einer anderen Lage: Die Schweiz wird durch die Veränderungen im Ausland herausgefordert. Erwartet wird, dass man dabei im Innern der Schweiz verstärkt über Parteigrenzen hinaus zusammenarbeitet. Das Ende der Polarisierung bei den Nationalratswahlen 2011 kann als klares Zeichen dafür gewertet werden, dass sich die Schweizerinnen und Schweizer gegenwärtig eher wieder mehr Systemstabilität wünschen. Institutionenkritik, wie sie mit der Volksinitiative zur Volkswahl des Bundesrats vorgetragen wurde, ist dabei nicht mehr besonders zugkräftig. Das Wettern über das Ausland dagegen schon.

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Genau das wurde der SVP-Initiative zum Verhängnis. Schon die erste SRG-Vorbefragung legte nahe, dass gerade noch ein Viertel der Stimmwilligen für die verlangte Änderung ansprechbar war. Am Abstimmungstag war aus diesem Potenzial fast punktgenau das Ja-Lager zur Volkswahl des Bundesrats geworden.

Claude Longchamp